Auf Jesu Spuren. Interview mit Nils Straatmann
Sich auf Spurensuche zu begeben, bedeutet immer auch, mitzufühlen und Dinge hautnah selbst zu erleben. Wandern, wo Jesus von Nazareth wandelte, darüber möchte ich heute Nils Straatmann sprechen. Er ist Autor des Buchs „Auf Jesu Spuren: Eine Wanderung durch Israel und Palästina“.
“Beim Wandern bist du in permanenter Kommunikation mit deiner Umwelt”
Christian | Nils, viele träumen irgendwie davon, sich eines Tages selbst auf ihren ganz eigenen Weg zu machen und vielleicht sogar Antworten auf manche Fragen zu finden, die einem das Leben so stellt. Kann man beim Wandern eigentlich Antworten finden? |
Nils |
Klar, total. Wandern ist mit Ausnahme von vielleicht Schwimmen die langsamste Form der Fortbewegung. Und die Langsamkeit macht etwas mit dir. Im Zuge der Langsamkeit bist du gezwungen, dich mehr und intensiver mit dir und der Umwelt, die dich umgibt auseinanderzusetzen. Außerdem ergeben sich Abhängigkeiten: Vom Wetter, von der Topographie, von der Kultur des Landes, in dem du dich bewegst. Beim Wandern bist du in permanenter Kommunikation mit deiner Umwelt. |
Christian | Wer auf den Spuren Jesus wandert, macht sich sicher alle möglichen Gedanken. Stell Dir vor, Jesus würde in der heutigen Zeit „noch einmal“ durch seine alte Heimat wandern können. Was würde ihm noch alles vertraut vorkommen? |
Nils | Puh. Das Klima vielleicht. Der Geruch des Landes in einer menschenleeren Gegend. Und vielleicht auch die Gastfreundschaft der Menschen. Die Warmherzigkeit gegenüber Hilfesuchenden, sowohl in Israel als auch in Palästina. Und bei allem geschehendem Leid: Das Vertrauen auf eine bessere Zeit. |
Christian | Bleiben wir bei der Phantasie eines Wanderers: Was würde er wohl vermissen? Und was würde er sich vielleicht anders wünschen? |
Nils | Die Ruhe, die Abgeschiedenheit. Die Rückzugsorte, vor allem in Galiläa, also dem Nordwesten Israels, seiner Heimat. Aber vor allem: Die Kommunikation. Jesus war ja einer, der sowohl mit Freunden als auch mit Feinden immer gesprochen und diskutiert hat. Das fehlt in Bezug auf die Feinde heute fast völlig: Israelis und Palästinenser haben und suchen nur in den wenigsten Situationen die Möglichkeit, miteinander zu sprechen. Das ist ein großes Problem. |
Christian | Dein Abenteuer – zumindest der Buchtitel – enthält die drei Wörter „Jesu“, „Israel“ und „Palästina“. Das Trennende hören wir ja täglich in den Medien. Was verbindet uns eigentlich? |
Nils | Uns oder Israel und Palästina? Oder Christen, Muslime und Juden?
Israel und Palästina haben viel mehr gemeinsam als sie trennt. Die Kultur ist sehr sehr ähnlich, das Essen, die Musik, selbst die Schimpfwörter. Von der Gastfreundschaft und Warmherzigkeit habe ich gesprochen. Und so komisch es klingt: Beide leben in permanenter Angst vor einem Feind, zum Teil in der Diaspora. Naja, und zu Juden und Muslimen und Christen nur so viel: Alle drei sind „abrahamitische Religionen“, das heißt, die gehen auf den Gründervater Abraham zurück, der im Alten Testament von Gott gesegnet wurde, seinen Glauben zu verbreiten und viele Nachkommen zu haben. Das bedeutet: Wenn alle drei Religionen auf Abraham und seinen Gott zurückgehen, haben alle drei denselben Gott. Bei allen Streitigkeiten sollte man das nie vergessen. |
“Durch die Langsamkeit des Wanderns wird zwangsläufig alles differenzierter”
Christian | Kann man als Wanderer Land und Leute anders erleben, als in den Medien? Ist Wandern eine Möglichkeit, die Welt besser, differenzierter und mit mehr Liebe zu verstehen? |
Nils | Siehe Antwort 1. :) Naja, durch die Langsamkeit des Wanderns wird zwangsläufig alles differenzierter. Wir sehen den Nahen Osten hier ja a) im Zeitraffer und b) immer nur durch eine negative Brille. Wir bekommen ja nur die Anschläge, die Morde, die Katastrophen mit. Dadurch wirkt es so, als ob das täglich passiert und alle sich hassen. Vor Ort war ich anfangs vor allem darüber verwundert, wie normal das Leben trotzdem ist. Wie selten (und natürlich trotzdem viel zu häufig!) im Vergleich zum vorherigen Gefühl etwas Schlimmes passiert. Und wie schnell man es schafft, sich davon emotional zu lösen. Ich hoffe, das hört sich nicht zu gefühlskalt an. |
Christian | Nils, ganz persönliche Frage: Was bedeutet Dir Glaube in Deinem Leben? |
Nils | Naja, ehrlich gesagt im täglichen Leben gar nicht so viel. Mein Glaube gibt mir eine Grundsicherheit, eine Zuversicht vielleicht, die ich aber nur selten wirklich wahrnehme. Da bin ich im Grunde froh drüber, denn meist wirkt Glaube vor allem dann relevant, wenn es einem nicht so gut geht. Wenn man gut drauf ist, kommt man irdisch schon zurecht. Wenn aber etwas Schlimmes passiert, dann gewinnen plötzlich überirdische Dinge an Relevanz. Das auszuführen, da bräuchte ich jetzt aber ein neues Buch. |
“… ob du glaubst oder nicht”
Christian | Was würdest Du jemandem sagen, der vom Jakobsweg , vom Israel-Trail oder von was auch immer träumt, weil es – grob gesagt – in ihm oder ihr „brennt“ aber ein Glaube einfach nicht da ist? |
Nils | Naja, wandern und los. Ist doch egal, ob du glaubst oder nicht. Der Israel-Trail zum Beispiel hat ja auch genau genommen nix mit Glauben zu tun. Und überhaupt, was ist das: Glaube, Religion? Es gibt ja gar nicht „den“ Glauben. Es gibt ja nicht mal „das“ Christentum. Alle Religionen sind Glaubensgemeinschaften, in denen man sich auf einen grundsätzlichen Glauben geeinigt hat, Jesus, dies das – aber in der trotzdem jeder ganz individuell seinen Glauben hat. |
Christian | Wenn man da draußen in der freien Natur unterwegs ist, auf knochentrockenen Feldwegen vorbei an Akazien und Olivenbäumen wandert, was geht einem da so alles durch den Kopf? |
Nils | Das alles, was ich oben schreibe. Die Gedanken kommen ja nicht von irgendwoher. :) Wer es detaillierter wissen will, der oder die muss mein Buch lesen. ;) |
Christian | Nils, ich musste mich nach meinem Israel-Trail auch spöttisch gestellten Fragen stellen, wie „… und, ist Dir Gott über den Weg gelaufen? Hast Du ihn getroffen?“. Ich selbst möchte Dir genau diese Frage stellen, ernsthaft allerdings… |
Nils | Nein, ist er nicht. Mein Kumpel und Begleiter Sören hatte zwar viel Ähnlichkeit mit unserem heutigen Bild von Jesus – aber in der Art war er dann doch anders. Das ganze Wasser-und-Wein-Ding… Aber: Ich habe schon Züge, die auch Jesus von Nazareth hatte, in den Menschen vor Ort wiedererkennt: Die benannte Gastfreundschaft, das Vertrauen auf eine bessere Zeit. Irgendwo auch die Neigung zum Philosophieren. |
Christian | Wie reagierten eigentlich Israelis oder Palästinenser Dir gegenüber auf die deutsche Vergangenheit, „Holocaust“? |
Nils | In Israel: Spielte das erstaunlicherweise gar keine Rolle. Zumindest für die Menschen um uns herum. Für uns selbst selbstverständlich. Vor allem in der Anfangszeit, haben wir uns permanent hinterfragt, wie wir gerade über wen denken, wie wir wem begegnen. So komisch es klingt, es war für uns quasi das erste Mal, das wir mit „echten Juden“ zu tun hatten. Was eben auch sehr mit dem Holocaust zusammenhängt.
Viele Palästinenser deuten den Holocaust, vor allem Hitler, aus ihrem aktuellen Gefühl heraus. (Ich schreibe bewusst „Gefühl“ – das bedeutet nicht, das ich das Gefühl zwangsläufig teile.) Das Gefühl vieler Palästinenser ist es, gegenüber Israel ohnmächtig zu sein, unterdrückt zu werden. Israel sei die unbesiegbare Übermacht, die ihnen Leid zufügt. So das Gefühl. Und aus diesem Gefühl heraus, erscheint ihnen Hitler wie ein Held. Das ist natürlich vollkommener Schwachsinn, ich hoffe, das ist klar. Aber ich glaube, es gibt einen Einblick in die Gefühlswelt vieler Palästinenser. |
Christian | Nils, ganz anderes Thema: Essen. Ich selbst erlebe ein neues Land und eine neue Kultur einfach immer auch wahnsinnig gerne mit allen Sinnen. Dazu gehören einfach auch völlig neue Geschmacksrichtungen, Gewürze. Die Gerüche der Straße, aber auch die Musik, Gelächter, Umarmungen … |
Nils | Ja. Essen ist toll. Der wohl intimste und wahrste Ausdruck der Kultur vor Ort. Was soll ich ergänzen? :) |
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Christian | Das Schönste, was ich von meiner Reise für mein Leben mitgenommen habe, war die Erfahrung einer unglaublichen Hilfsbereitschaft und Nächstenliebe. Genau darüber berichtest Du ja auch… |
Nils | Ja. :) Auch, wenn du hier keine Frage versteckt hat, vielleicht ergänzend für alle religionsinteressierten Leser: Die Nächstenliebe vor Ort, die auch Jesus propagiert, ist eben nichts Besonderes für die Menschen im Nahen Osten. Das ist Teil der Kultur und sie findet sich auch im Judentum und im Islam. Was neu und spezifisch christlich war – und höchstwahrscheinlich auch historisch auf Jesus zurückgeht, ist der Gedanke der Feindesliebe. Nächstenliebe kann (im Nahen Osten) jeder – aber Feindesliebe, das war etwas ganz Neues – und irgendwie auch widersinniges, bis heute das wahrscheinlich schwerste Gebot im Christentum. |
“Die Möglichkeit eine solche Reise machen zu können, ist ein wahnsinniges Privileg”
Christian | Manche verstecken sich ein Leben lang hinter Ausreden, warum sie ihren eigenen Weg nicht antreten konnten und können. Wie viel Zeit und Geld braucht man eigentlich, wenn man sich eines Tages selbst aufmachen möchte…? |
Nils | Mich nervt es immer, wenn Leute sagen: Hey, hey, wenn du den Traum hast, mach doch einfach, los geht’s, alles andere sind Ausreden. Das ist Quatsch! Wenn du von Hartz 4 lebst, und womöglich noch Kinder hast, wie willst du dann so einen Traum leben? Oder wenn du eine Behinderung oder eine chronische Krankheit hast.
Die Möglichkeit eine solche Reise machen zu können, ist ein wahnsinniges Privileg. Natürlich gehört auch Mut dazu, das ganze durchzuziehen. Aber zu behaupten, jeder könne das, ist ein bisschen arrogant und nicht sehr weit gedacht. Ich bin wahnsinnig glücklich, dass ich diese Reise machen konnte – und ich weiß, wie privilegiert ich bin. Aber ich bin auch froh, dass ich die Möglichkeit hatte, dieses Buch zu schreiben, und so die Chance hatte, Menschen an der Umwelt, die ich erlebt habe, teilhaben zu lassen. |
Christian | Nils, ich bin heute mit vielen Begegnungen meines Israel-Trails tief befreundet. Mit extrem vielen Israelis natürlich. Aber auch mit arabischen Israelis, mit Palästinensern. Mit Menschen Jüdischen Glaubens in meiner eigenen Heimat. Ich habe aber auch Jordanier in meinem Freundeskreis, Ägypter, auch einen Iranischen Bergführer. Darf man von einer besseren Welt träumen? |
Nils | Selbstverständlich – muss man. Auch wenn ich persönlich, auch auf Grund der aktuellen Entwicklungen, gerade nicht so viel Hoffnung habe. |
Christian | Dein Buch ist geprägt von extrem viel Hintergrundwissen und extrem Detail genauen Darstellungen. Deine politischen Einlassungen teile ich jedoch nicht alle. Trotzdem noch Freunde? |
Nils | Klar. |
“Die meisten Palästinenser kennen Wandern nur von Israelis”
Christian | Bist Du auf Deiner Reise eigentlich bewusst an den Wegmarkierungen des Israel National Trails „orange blau weiß“ oder an denen des Jesustrails vorbei gekommen? |
Nils | Na klar. Die Trails sind super, weil sie die beste Infrastruktur liefern. Auf dem Jesus Trail waren wir gar nicht so viel, der geht nur überwiegend an den Sehenswürdigkeiten vorbei. Dem Israel National Trail sind wir von Safed bis in den Norden gefolgt. Der schönste Trail war aber der Golan Height Trail vom Hermon bis zum See Genezareth. |
Christian | Wie steht es eigentlich um die Sicherheit, wenn man in Israel und Palästina wandern möchte? Manche würden einen ja recht schnell für verrückt erklären… |
Nils | In Israel ist wandern überhaupt kein Problem. In Palästina ist wandern ein bisschen schwieriger. Die meisten Palästinenser kennen Wandern nur von Israelis – und die sind dann meist Siedler. Insofern muss man vorsichtiger, umsichtiger sein. Aber: Man kann auch hier sehr gut wandern. Auf abrahampath.org gibt es tolle Routen. Vor allem der Weg von Jericho nach Jerusalem ist sehr schön – wenn auch sehr anspruchsvoll. Wenn man sich auf diesen bekannten Routen bewegt, kann man sehr gut unterwegs sein – und sich auch wieder auf die Hilfsbereitschaft der Menschen verlassen. |
Christian | Ich erfinde schnell mal was: „Melanie“ (24) erzählt ihren Eltern, dass sie Jerusalem und Bethlehem sehen möchte, allein und mit Rucksack und zu Fuß. Die Eltern haben Angst. Was würdest Du Melanie mit auf den Weg geben wollen? Und was würdest Du den Eltern sagen wollen? |
Nils | Na, erst mal, dass die Strecke zwischen Bethlehem und Jerusalem nicht die schönste ist. Und dann, das sie ihre Strecke gut vorbereiten sollte und sehr deutlich machen sollte, das sie Touristin ist. Wir haben uns immer sehr offensiv wie die schlimmsten amerikanischen Hipster gekleidet, um gleich jedem Konflikt aus dem Weg zu sehen und deutlich zu machen: Wir sind Fremde, wir sind neutral. Uns wurde geraten: Macht immer gleich deutlich, dass ihr Gäste der Menschen seid. Dann werden sie auch warm empfangen. Das hat gut funktioniert. Aber ich möchte auch sehr deutlich sagen: Wir waren zu zweit und als Männer unterwegs. Ich kann und möchte nicht einschätzen, ob das als Frau auch so möglich gewesen wäre. Das kann ich ja nicht mal für Berlin oder Nürnberg einschätzen. |
Christian | Nils, wer sollte Dein Buch lesen? Und wer nicht? (lacht) |
Nils | Alle Leute, die einen sehr facettenreichen Einblick in die Gefühlswelt von Israel und Palästina gewinnen wollen, sollten das Buch lesen. Und alle, die Lust haben, mehr über die Geschichte des Christentum und den Menschen Jesus erfahren wollen. Damit meine ich diese menschliche, historisch greifbare Figur, die die Vorlage für den biblischen Jesus wurde. Ich würde ganz selbstbewusst behaupten, dass ich es in dem Buch geschafft habe, interessante Einblicke in Christentum zu geben, ohne dass es zu fromm ist oder bekehrend wirkt.
Außerdem finde ich, dass das Buch einen sehr guten objektiven Blick auf den Nahen Osten wirft. Unsere Idee war, selbst so wenig wie möglich zu werten. Gleichzeitig haben wir wahnsinnig viele verschiedene Menschen getroffen und mit ihnen gesprochen: Israelis, Palästinenser, Juden, Christen, Muslime, Drusen, Soldaten, Prostituierte, Widerstandskämpfer, Pastoren, Bauern, Köche. Alles. Und alle erzählen ihre Sicht auf die Dinge. Dadurch ergibt sich ein sehr facettenreiches Bild der Region – und jeder Lesen kann sich seine eigene Meinung dazu machen. |
Drei Wünsche …
Christian | Wenn Du drei Wünsche frei hättest, die Du nur an Israel und Palästina vergeben könntest, dann … |
Nils | Das alle Menschen vor Ort die Möglichkeit hätten, so zu reisen, wie wir es konnten. Und auch so empfangen werden. Ich glaube, wenn das so wäre, würde es diesen Konflikt in dieser Form bald nicht mehr geben.
Und: Dass die Menschen lernen zu vergeben. Aber auch, dass sie lernen, dass ihnen vergeben werden muss. Wenn ich eins vor Ort gelernt habe, dann, dass beide Seiten in diesem Konflikt Opfer sind. Aber auch, dass beide Seiten Täter sind. Wie und in welchem Maße, das kann man nicht sagen. Es macht keinen Sinn, Leid gegeneinander aufzuwiegen. Ich glaube, wenn man es schafft, das Leid der anderen Seite anzuerkennen, dann ist schon viel geschafft. Gleichzeitig mag ich mir kaum vorstellen, wie schwierig das ist. Ich bin weit davon entfernt, aus meiner Position heraus Rat- oder Lösungsvorschläge für den Nahostkonflikt zu geben. Das wäre anmaßend. Dritter Wunsch: Wasser. Irgendwann wird unabhängig von den aktuellen Konflikten Wasser zum Problem werden. Das wird dann im gesamten Nahen Osten nochmal ein anderes Thema… |
Wow, ganz herzlichen Dank Nils für dieses Interview…
Über Nils Straatmann
Nils Straatmann, 1989 bei Hamburg geboren, studiert in Leipzig und schreibt Artikel u.a. für die taz, Freemen’s World und Süddeutsche Zeitung. Er ist Mitglied der Autorennationalmannschaft des DFB und tritt seit 2008 als „Bleu Broode“ auf deutschen Slam-Bühnen auf, wo er 2013 deutscher Meister im Team wurde. Zuletzt erschien von ihm bei Malik der Band „Auf Jesu Spuren. Eine Wanderung durch Israel und Palästina“.
Motto
„Wer Frieden will, muss friedlich sein.“ (Narji)
Kontakt
kontakt@bleubroode.de
Links
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- Das Buch bei Piper ->
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Fotos
(c) Sören Zehle. Zum Buch Nils Straatmann: Auf Jesu Spuren | Eine Wanderung durch Israel und Palästina / PIPER/ Malik, und (c) Christian Seebauer
Leseprobe
Lina Magdalena
Und siehe, eine Frau war in der Stadt, die war eine Sünderin.
Lk 7,37
27. Mai 2016, Tiberias, Israel
Am folgenden Morgen fühlen wir uns topfit. Wenn man am Vorabend schon nach drei Bier sturzbetrunken und um zwölf Uhr todmüde ist, hat das auch Vorteile.
Gegen Mittag verlasse ich das Hotel, um nach dem von Lahvac erwähnten » Hostel Nahom « zu suchen. Ich wähle die Nummer, die er mir gegeben hat, doch habe keinen Erfolg.
Nachdem ich mein Anliegen bei der Tourismuszentrale vorgebracht habe, wendet sich der Mann hinterm Tresen an seinen Kollegen. » Levi ! «, ruft er in ein Büro. » Kennst du einen Puff ? Hier sucht einer einen ! Ja ! Zu › Recherchezwecken ‹ ! «
Ich fühle mich wie damals mit 15, als ich versuchte, einen Playboy zu kaufen, mit der Begründung, ich brauchte ihn für den Biologieunterricht.
An mich gewandt, fügt der Mann hinterm Tresen hinzu :
» Entschuldigen Sie, ich bin neu hier. Und in festen Händen. «
Unterdessen trottet uns Levi lethargisch entgegen. » Sie suchen also einen Puff ? Das haben Sie doch gar nicht nötig ! «
» Doch «, sage ich. » Es ist für meine Reise. Auf den Spuren Jesu nach … «
» Aha. Auf den Spuren Jesu … Na, dann fahren Sie mal in die Hafenstädte. Nach Haifa oder Tel Aviv. Wo es Seemänner gibt, da gibt es auch Prostituierte. «
» Entschuldigung «, schaltet sich nun ein Mann hinter mir ein. » Ich möchte mich ja nicht aufdrängen, aber vielleicht schauen Sie mal in der Billardbar hinter der alten Moschee vorbei ? Ich kann mir vorstellen, dass Sie dort fündig werden. «
» Oder hinten im Industriegebiet «, ergänzt ein anderer Mann im rückwärtigen Teil des Raumes.
» Okay, danke. Sonst noch jemand Vorschläge ? «
» Hm. Nein «, antwortet Levi. » Aber seien Sie vorsichtig. Die
Frauen von Tiberias sind sehr stolz. «
» Und stark «, ergänzt der Herr hinter mir. » Russisches Blut ! « Bevor ich die Touristeninformation verlasse, hält mich der Angestellte noch einmal zurück : » Ach, und falls Sie fündig werden – könnten Sie uns Bescheid geben ? « Er grinst verlegen. » Nur falls die Frage noch mal aufkommt ! «
Nach einiger Recherche finde ich im Internet die Adresse des » Hostel Nahom «. Eine steile, mit Schutt übersäte Treppe führt hinauf zu einem Klingelschild, doch da, wo die Klingel sein sollte, prangt nur ein faustgroßes Loch in der Wand. Durch die matten Scheiben der Haustür kann ich ins Innere des Gebäudes blicken. Ein kaputter Sekretär, gebrochene Fliesen, Staub. Ich klopfe, doch nichts rührt sich.
Erst als es Abend wird, ruft Nahom mich zurück. » Hallo ? «, sagt er mit russischem Akzent. Die Stimme klingt nach Zigarette.
» Nahom ? «, frage ich. » Ich habe deine Nummer von Lahvac.
Er meinte, du könntest mir helfen ! «
Kurzes Schweigen. » Ich kenne keinen Lahvac. «
» Er hat mir diese Nummer gegeben ! Er sagte, er schuldet dir noch einen Gefallen. Lange Haare, schlechte Zähne … «
» Meinst du den Verrückten ? «
Ich zögere einen Moment. » Jaaaah, ich glaube, den meine ich. «
» Was willst du ? «
» Ich suche ein Laufhaus in Tiberias. Beziehungsweise eine Prostituierte. «
Ein paar russische Sätze im Hintergrund.
» Und du bist ein Freund vom Verrückten, ja ? «, fragt er mich dann.
» Ja. «
» Sababa. Dann such nach dem › Long Legs ‹ ! « Er nennt mir eine Adresse und legt ohne ein weiteres Wort auf.
Das » Long Legs « liegt im nördlichen Randgebiet der Stadt, auf halber Höhe den Hügel hinauf. Lkw-Anhänger stehen verwaist auf einem rissigen Parkplatz, die Straße ist leer, das Licht fällt in schummrigen Kegeln auf den Asphalt. Zwei Hunde streunen um einen Müllcontainer. Es gibt kein Schild, das auf das » Long Legs « hinweist. Keine Werbung, keine Leuchtreklame oder Ähnliches. Nur ein paar blickdichte Scheiben und das Plastikbein einer Schaufensterpuppe, das in einer löchrigen Strumpfhose über einer weißen Tür baumelt.
Zwei Frauen stehen an einer Bushaltestelle, die weder Namen noch Fahrplan hat. » 10 minutes, 100 Schekel ! «, fordern sie uns auf. Als ich versuche, ein Gespräch zu beginnen, winken sie ab. » No english, man. «
Das Innere des » Long Legs « ist weiß gefliest. Ein Kühlschrank mit Softdrinks und Champagner steht neben dem Eingang, rechts ein schwarzer Tresen, hinter dem auf einem Flachbildschirm ein nackter Mann mit gespreizten Beinen auf einem Tisch liegt, während ein anderer Mann sich über ihn beugt. Am Tresen lehnt ein älterer Herr und unterhält sich mit einer Dame.
Sie hat breitere Schultern als ich.
» Entschuldigung ? «, sage ich.
Die beiden unterbrechen ihr Gespräch, die Dame dreht sich zu uns um.
» Wir suchen eine Prostituierte ! «
Der Mann hinter der Theke grinst. » Dann seid ihr hier richtig. Das ist Lina. «
» Shalom «, haucht Lina und gibt jedem von uns ein Küsschen auf die Wange. Sie riecht nach süßem Puder.
» Wollt ihr zu zweit ? «, fragt der Mann hinterm Tresen.
» Ähm, also, ja ! «, druckse ich herum. » Aber wir wollen … Wir wollen ein Interview führen. «
» Ein Interview ? «
» Mit einer Prostituierten. «
» Aha. « Der Mann runzelt die Stirn. » Lina ? « Er unterhält sich kurz mit ihr auf Hebräisch, dann wendet er sich wieder zu uns. » Sie sagt, sie macht, was ihr wollt. Aber zwei Leute kosten extra. 15 Minuten 200 Schekel ! Und ihr braucht einen Übersetzer. «
Ich blicke zu Sören. Hinter ihm kommt ein älterer Herr mit grauem Kurzhaarschnitt herein. Er trägt eine dicke Brille, sein linkes Auge schielt etwas.
» Asaf ! «, begrüßt ihn der Wirt. » Sag mal, kannst du Englisch ? «
Bevor Asaf antwortet, geht er zu Lina und gibt ihr ein Küsschen. » Worum geht’s ? «
» Die beiden sind Journalisten. Sie wollen ein Interview führen. «
» Mit Lina ? Okay. «
Durch einen dunklen, schlauchigen Gang gelangen wir zu den Kabinen. Die einzelnen Kabuffs sind durch grau gestrichene Pressspanplatten voneinander getrennt, im hinteren Teil des Flurs steht ein Waschbecken, als einziges Mittel der Hygiene.
Unsere Kabine ist nicht viel breiter als anderthalb Meter. Zwei Drahtstühle mit Kunstlederbezug darin, ein schwarzer Mülleimer voller Taschentücher. Rechts in der Wand prangt ein faustgroßes Loch, das durch ein weißes T-Shirt abgedichtet ist. Keine Ahnung, ob das Loch aus Versehen oder mit Absicht dort entstanden ist.
Lina wischt mit einem Stück Küchenrolle einmal über die Sitzflächen der beiden Stühle und bedeutet mir, mich zu setzen. Kaltes Neonlicht erhellt die Szenerie, von irgendwoher hören wir ein Stöhnen. Sören und Asaf quetschen sich dazu.
» Kein Film ! «, wird Sören angewiesen. » Wenn Linas Familie sie so sieht, werden sie sie umbringen. Ihr könnt am Ende ein Foto machen. «
Der Raum ist wirklich außerordentlich eng. Die Luft schmeckt verbraucht ; mit jeder Bewegung habe ich das Gefühl, etwas Ekliges zu berühren.
» Also, was wollt ihr wissen ? «, fragt Asaf ungeduldig.
Ich räuspere mich. In meinem Kopf hatte ich dieses Gespräch in einem hellen Café geführt. Eine hübsche Frau saß vor mir, mit gutem Englisch, die durch irgendeinen unglücklichen Umstand in die Prostitution gerutscht war. Die Realität dagegen ist dreckig und wird von einem ungestümen Keuchen untermalt.
» Bist du religiös ? «, frage ich Lina leicht nervös.
» Muslima «, antwortet sie.
» Praktizierst du ? «
» Ich habe gebetet und den Koran gelesen. «
» Du betest nicht mehr ? «
» Nein. «
» Warum nicht ? «
Lina streicht sich die Haare aus dem Gesicht. » Als ich noch in meinem Dorf lebte, habe ich gebetet. Dann bin ich weggelaufen. Hier ist es keine gute Welt. Ich will nicht, dass Gott mich so sieht. «
Das Keuchen nebenan wird leiser.
» Hast du deinen Glauben verloren ? «, frage ich.
Lina zögert. » Ich glaube im Herzen. «
» Und seit wann bist du in dieser Welt ? «
Man sieht ihr an, wie sie rechnet. » Zehn Jahre ungefähr. Ich bin jetzt 27. «
Mein Alter, denke ich. » Warum bist du weggelaufen ? «
» Ich habe mich verliebt. Aber meine Familie wollte ihn nicht. Wir sind weggelaufen, wir haben geheiratet. Aber dann hat er mich verlassen, und ich war allein. «
Das Keuchen ist mittlerweile einem Rumpeln gewichen, das aus einer weiter entfernten Kabine kommt. Die ganze Zeit über beschäftigt mich schon die Frage, ob Lina wohl auch als Frau geboren wurde. Sie ist groß und breit gebaut, ihre Stimme klingt ganz und gar nicht weiblich. Außerdem befinden wir uns offensichtlich in einem Etablissement für Homosexuelle. Das Rumpeln geht bald in ein rhythmisches Stoßen über. Eigentlich kann es mir auch egal sein.
» Wie geht es dir in diesem Umfeld ? «
Lina überlegt einen Moment. Dann entscheidet sie sich, meine Frage zu umkurven. » Ich habe drei Kinder. Zwei Mädchen, einen Jungen. In einem normalen Job verdiene ich vielleicht 250 Schekel im Monat. Hier mache ich manchmal 500, manchmal 1000 Schekel am Tag. Meine Mutter hat sich scheiden lassen. Manchmal schicke ich ihr was. «
Das Stoßen wird schneller, jemand haut zweimal gegen eine Wand, dann wird es still.
» Ich habe irgendwann mal zu Gott gebetet «, fährt Lina fort. » Ich sagte, ich brauche Geld. Am nächsten Tag habe ich 2000 Schekel verdient. «
Freier im Wert von 2000 Schekel. Bei einem Kurs von zehn Minuten für 100 Schekel. Mir wird flau im Magen. » Gibt es etwas, was dir Hoffnung macht ? «
Diesmal kommt Linas Antwort ganz schnell : » Geld ! Geld ist das Einzige, was zählt. «
Ich hätte mir eine andere Antwort gewünscht. Natürlich kann Geld Sicherheit geben, viel Geld vielleicht auch Hoffnung. Dennoch ist mir der Gedanke zu materiell. Ich hake nach : » Was spornt dich an ? Was macht dein Leben lebenswert ? «
Lina denkt lange nach. Die Neonleuchte über uns brummt monoton. » Meine Mutter und meine Kinder «, sagt sie schließlich. » Für sie bin ich da. « » Und ist jemand für dich da ? « Lina schweigt.
» Im Christentum haben wir gelernt, dass Gott uns alle Sünden vergibt. Was sagt dir dein Gott ? «
» Unser Gott kann auch vergeben ! Es hängt von der Geschichte ab … «
» Und vergibt er dir ? «
Lina blickt zur Wand, dann wieder zu mir. » Ja «, antwortet sie leise. » Weil ich nicht für mich hier bin. «
» Gibt es etwas, was du dir von deinem Gott wünschst ? Nicht für deine Familie, für dich ? «
» Dass ich hier rauskomme … Freunde haben gesagt, ich soll ins
Ausland gehen und dort arbeiten. Aber ich möchte nicht weg. «
» Sie hat Angst «, ergänzt Asaf. » Sie traut sich nicht, ihre Strukturen zu verlassen. «
» In zehn Jahren werde ich eh nicht mehr hier sein «, fährt Lina fort. » Die Schönheit verschwindet, aber das Herz bleibt stark. « » Wird Gott dir helfen ? «, frage ich.
» Inschallah «, betet Lina. » Er wird helfen. Er kümmert sich um alles. Er macht, was er will. «
Zur Nacht sitzen Sören und ich auf dem Balkon unseres Hotels. Das Licht einer Werbereklame blinkt unruhig im Augenwinkel ; die Korbstühle, auf denen wir sitzen, sind von Vogelmist übersät. Vom Tresen hören wir Radek, der auf einem Holzbrett riesige Mengen Knoblauch hackt. Wir trinken ein letztes Bier.
Ich denke über unser Gespräch mit Lina nach. Auffallend, wie sehr sie ihre Familie betonte und dass sie für sie da sein wolle. Dann das Schweigen darüber, wer für sie da sei. Sie selbst schien sich egal, die Prostitution schien ihr das Selbstwertgefühl genommen zu haben. Ich denke an all die Geschichten über Jesus. Wenn er sich tatsächlich der Sünderinnen annahm und ihnen mit göttlicher Wahrhaftigkeit ihre Sünden vergab, dann konnten sie daraus vielleicht ihr Selbstwertgefühl zurückgewinnen. Sie mussten nur daran glauben.
Der individuelle Glaube hat diese riesige Macht. Er kann Hoffnung geben und die Menschen zum Handeln aktivieren. Natürlich kann er auch missbraucht werden, denn er kommt aus unserem Innersten und hat darauf großen Einfluss. Aber sein positives Potenzial ist nicht zu unterschätzen. Weil er eine Kraft birgt, die es im Gegensatz zu jeder » Waffe « möglich macht, das Leben zu bejahen.
Morgen wollen wir nach Magdala, wo die wahre Maria Magdalena vor 2000 Jahren gelebt haben soll.
Das Buch gibt es hier