Von Isfiya nach Kerem Maharal

Israel National Trail dritte Woche

Shvil Israel: Warum betet er nicht?

INT: Von Isfiya nach Kerem Maharal

Etwa 23 Kilometer, 430 Höhenmeter Gesamtanstieg. Trinkwasserverbrauch 4 Liter.

Aufstehen, losgehen! So war das bei der Bundeswehr. Heute sage ich ganz bewusst: Aufstehen und losgehen dürfen. Nichts, was dich aufhält. Bereit sein für die Natur – und die beginnt gleich ganz großartig. Weil ich die Nacht nicht in Freien verbracht habe, konnte ich auch ein wenig länger schlafen. Pünktlich zum Sonnenaufgang stehe an Gilads Tür und darf wandern. Die Sonne taucht Isfiya in ein unwirkliches, orangefarbenes, nebliges Licht. Ich werfe gerade einen langen Schatten vor mir her, als ich in den Wald eintauche. Vom Städtchen habe ich nicht viel mitbekommen.

Der Israel Trail führt von der Natur sofort wieder in die Natur. Trotzdem möchte ich all die schönen Orte hier eines Tages auch einmal als normaler Tourist erleben, vielleicht auch ein wenig erklärt bekommen, irgendwo auch eine Spezialität essen. Dafür sehe ich all die schönen Dinge, die dem normalen Urlauber stets verborgen bleiben. Ich sehe das Land und ich sehe die Herzen. Stundenlang wandere ich heute schon durch den Wald. Es sind die Wälder der Carmel Mountains. Bis auf kleine Steigungen geht es heute nur bergab. Von 550 Meter über Null werde ich heute Abend wieder fast bei Null ankommen. Dazwischen liegen noch ein paar Hügel, die es zu überwinden gilt. Aber mit guten achtzehn Kilometern ist die heutige Etappe doch recht erholsam – dachte ich.

Israel Trail: Ausrüstung auf wenige Dinge reduziert.

Zuerst einmal genieße ich mein Dasein, wie es ist. Mein Leben hat sich auf ganz wenige Dinge reduziert: Meine Schritte, meinen Puls und meine Empfindungen in der Natur. Und letztere scheinen jeden Tag mehr und mehr zu werden. Ich kann wieder richtig riechen. Viel mehr als zu Hause. Und ich höre tief hinein in den Wald, der mich heute Schritt für Schritt begleitet. Grüner Wald, so weit das Auge reicht. Und alles ein Katzensprung heute. Abwärts geht es, dem Mittelmeer entgegen. Morgen werde ich es erreichen. Heute möchte ich mir noch Ein Hod ansehen, das berühmteste Künstlerdörfchen in Israel. Es liegt direkt am Weg. Und weil ich selbst ja nun endlich Künstler bin, möchte ich mich auf die Kunst der anderen einlassen. Nach Ein Hod folge ich dem Israel Trail. Doch dann wird es verwirrend: Plötzlich scheint der Israel Trail in verschiedene Richtungen zu gehen. Einmal halb links. Dann geradeaus, sprich steil nach oben und dann sehe ich noch Zeichen, die rechts abzubiegen scheinen. Scheinen deshalb, weil ich vermute, einer der Wegweiser ist hier umgefallen oder umgestoßen worden. Aber man weiß ja nie.

Aber wozu brauche ich schon Wegmarkierungen, ich habe ja auch mein Red Book dabei. Der Reiseführer von Jacob Saar hat sich bis jetzt als äußerst präzise erwiesen. Hier steht irgend etwas von: „To get to Hirbat Rakit you have to turn left on the dirt road“. Soweit so gut. Nach Hirbat Rakit will ich nicht. Oder doch? Liegt dieses Hirbat wie auch immer am Weg? Soll ich dann also auf dem Schotterweg links abbiegen? Oder ist Hirbat Rakit falsch? In diesem Fall möchte mir das Buch vielleicht mitteilen, dass ich den „Linksknick“ ausschließen soll, weil er ja dahin führt, wo ich gar nicht hin möchte. Hm?

Ich muss also mein Navi einschalten, auch wenn ich den Handy-Akku eigentlich lieber schonen möchte. Er läuft leider mit dem letzten Rest Strom, denn das gestrige Aufladen hat anscheinend nicht funktioniert. Meine Navigationsapp war mir bis jetzt immer ein weiterer zuverlässiger Partner. Doch die App meint, dass ich an Hirbat Rakit schon längst vorbeigegangen sein muss, ohne es zu bemerken. War Hirbat Rakit vielleicht nur ein Baum? Laut Navi müsste ich mich eher am „Oren Picnic“-Point befinden. Von dort aus ginge es laut Reiseführer geradeaus („climb the black trail“). Das Navi zeigt mir hier aber einen ganz anderen Weg rechts herum. Gut, nicht das Navi zeigt diesen Weg, vielmehr habe ich den aufgezeichneten GPS-Track eines unbekannten Wanderers hochgeladen, der hier eben rechts gegangen ist. Sagt also auch nichts. Auch wenn es sehr selten ist, dass man hier auf Menschen trifft: Vor mir tauchen plötzlich zwei Wanderer auf, die aber wiederum einen ganz anderen Weg scharf links einschlagen.

Weil es im Höhenprofil des Reiseführers bergauf geht, entscheide ich mich für den schwarzen Weg geradeaus. Ich beginne erstmals, meinen Herzschlag in den Ohren zu hören. Und ich fühle, dass ich gerade mehr Wasser verschwitze, als ich in den nächsten Stunden werde trinken können. Auch wenn ich in den letzten Tagen viel Essbares geschenkt bekommen habe, geht mir die regelmäßige Kalorienzufuhr plötzlich ab. Auf einen Schlag fühle ich mich kaputt und krieche stellenweise auf allen Vieren nach oben. Beim Aufrichten wird mir schwarz vor den Augen. Ich klammere mich mit meinen Händen an einem Kieferzweig fest.

Wenige hundert Höhenmeter machen mich so fertig, wie ich es mir so nicht vorstellen konnte. Mein Puls rast und das erste Mal bekomme ich hier so etwas wie ein irrsinniges Angstgefühl. Ich setze mich auf den Boden, obwohl er nass ist. Dann höre ich viele Stimmen. Kinderstimmen. Es kommt von unten. Sie lachen und reden während des Gehens. Erst im letzten Moment kann ich sie sehen. Sie sausen an mir vorbei, als wenn der Wind sie tragen würde. Abwechselnd grüßen sie mich mit „Schalom“, „Hi“ und „Hello“. Ich gebe mir alle Mühe zu lächeln und mir nichts anmerken zu lassen. Bestimmt sind schon zwölf Kinder an mir vorbei gegangen. Dann kommen zwei Erwachsene nach. Ob es Eltern sind, oder Lehrer? Ich bemühe mich, freundlich „Schalom“ zu sagen und höre den Mann fragen, ob es mir gut gehe. „Yes, okay“, antworte ich, „everything okay“.

Schnell ist die Gruppe wieder weg und es ist wieder still geworden. Warum habe ich ihnen nicht gesagt, dass es mir schlecht geht? Immer wieder wird mir schwarz vor den Augen. Ich sehe Sterne. Ich friere, habe fast so etwas wie Schüttelfrost. Meine Zunge klebt fest am Gaumen, ich trinke zu wenig. Nur im Schneckentempo geht es nach oben. Mein Rucksack erschlägt mich fast. Meine Knie sind weich und zittern. Immer wieder falle ich hin vor Erschöpfung. Dabei sollte alles nur ein Katzensprung sein.

Beim letzten Sturz habe ich mich böse aufgeschürft. Aber immerhin rüttelt mich das ein wenig wach. Nach einer halben Stunde habe ich es dann geschafft. Ich stehe am höchsten Punkt. Zumindest eröffnet sich mir ein 360-Grad Panorama. Dass ich plötzlich das Mittelmeer unter mir sehe, registriere ich gar nicht wirklich. Ich bin falsch hier. Hier ist kein Ein Hod, kein Dorf, nichts. Hier ist einfach nur ein schöner Platz – und einer, der nicht mehr kann. Einer, der sich völlig überschätzt hat und gedacht hat, er könnte untrainiert Israel durchwandern. Ohne Erfahrung, ohne Geld. Wie naiv!

Ist dort unten mein Weg zu Ende? Da unten ist Zivilisation. Eindeutig. Nur, schaffe ich es überhaupt noch bis da unten hin? Ich bleibe nicht einmal stehen, obwohl es sicher einer der schönsten Aussichtspunkte meines Lebens gewesen wäre. Ich gehe nach unten. Vielmehr: Ich torkle nach unten. Nicht dem Weg nach, sondern in der Fall-Linie durch das Gestrüpp. Ob sie mich als einen Geist sehen? Da sind sie, die Kinder und die zwei Erwachsenen. Sie haben sich ein herrliches Plateau ausgewählt, um hier Picknick zu machen. Ich möchte denen nicht begegnen. Nicht jetzt. Nicht so. Daher mache ich einen großen Bogen, falle aber und rolle in zwei, drei Purzelbäumen direkt zu der Gruppe hin.

„No problem“, sage ich ihnen völlig abwesend und bemerke gar nicht, dass es mich schon wieder auf mein rechtes Knie gehauen hat. Die „Mama“ kommt auf mich zu und wischt mir erst einmal mein Blut weg. Trotzdem, ich möchte weg hier. Wenn man sich so fühlt wie ich, dann möchte man keinem Menschen begegnen, man möchte flüchten. Nur habe ich meine Rechnung ohne die Kinder gemacht. Die nämlich möchten sich mit dem Ausländer fotografieren lassen. Und sie lachen unentwegt. Da kann man einfach nicht raus. Nach dem Foto möchte ich selbst auch selbst die Gruppe filmen. Vor lauter Erschöpfung stürze ich mit einer Rolle vorwärts. Ich kann nicht mehr gehen und nicht mehr stehen. Ich sitze da und versuche zu lächeln. „Nichts passiert“, sage ich auf deutsch. Die Mama sagt den Kindern auf hebräisch wohl „Gebt dem Mann mal was zum Essen. Der kann nicht mehr. Schnell, schnell. Bringt mir ein paar Müsliriegel.“

Was nun passiert, kann man mit Worten nicht beschreiben. Soll ich Kindern ihre Nahrung wegnehmen? Nein, das geht einfach nicht. Viele Hände strecken mir Müsliriegel und Chips entgegen. Der Kleinste reicht mir einen Plastikbecher mit Tee. „Take“, meint er und sagt dann ganz bestimmt „please“ zu mir. Ein Bettler zu sein auf Zeit – damit konnte ich bis jetzt gut leben. Aber jetzt, was soll ich tun? Ich fühle mich erbärmlich. Kann und darf ich annehmen, was Gott mir hier durch seinen kleinen Geschöpfe schenkt? Ist das noch legitim oder soll ich genau jetzt abbrechen? Aufhören, „Stopp!“ sagen? Ich erzähle weder meine Geschichte, noch wie es mir geht. Aber ich beiße in einen der Müsliriegel. Nur einmal. Ich kaue ganz langsam und spüre die Kraft, die mir zuteil wird.

Ich denke an meine Mutter, die als Flüchtlingskind aus Schlesien nach Bayern gekommen ist. Ich habe sie nie verstanden, wenn es sie geschmerzt hatte, wenn wir unsere Teller nicht leer aßen. Ich konnte mir nie vorstellen, wie es ist, Hunger zu haben. Ich hatte nicht die geringste Ahnung, was ihr ein Schokoriegel bedeutet haben könnte, den sie als Kind von einem amerikanischen Soldaten geschenkt bekam. Jetzt fühle ich mich selbst wie dieses kleine Kind. Einen Müsliriegel in der Hand, umgeben von vielen fröhlichen Geschöpfen, die mich eine tiefe Geborgenheit spüren lassen. Gefühle wie diese hat man nicht oft im Leben. Als ich dann langsam meinen Weg ohne Ziel fortsetze, habe ich meinen Riegel noch immer in der Hand. Und ich beginne ganz bitterlich zu weinen. Nein, ich werde nicht aufgeben. Nicht nach all dem Guten, was mir hier und heute in Israel widerfahren ist. Nicht nach all den vielen Menschen, die mir einen guten Weg gewünscht haben. Ich werde gehen, gehen, gehen. Denn ich spüre, dass Gott mich begleitet. Ich fühle, dass er da ist, dass es ihn gibt!

Mit kleinen Schritten geht es abwärts. Aus dem Israel Trail wird ein harter Klettersteig ohne Markierung. Schließlich lande ich nach Stunden wieder da, wo ich heute Vormittag schon war: Am Oren Picknick Point. Das Künstlerdorf Ein Hod finde ich nicht. Ich verlaufe mich heute noch ein weiteres Mal. Ich weiß nicht, was Gott mich damit lehren möchte. Jetzt lande ich auf einer Schnellstraße und halte Ausschau nach meinem Israel Trail. Nach einer halben Stunde sehe ich weit entfernt eine Wegmarkierung, aber den Zaun an der Straße kann ich nicht überwinden. Ich weiß, dass der Weg dahinter ist und komme nicht hin. Die Kilometer auf der Straße zermürben mich. Ich will hier weg, möchte meinen Weg wieder finden.

„Warum betet er nicht, warum bittet er mich nicht?“, könnte Gott jetzt sagen. „Warum jammert er? Warum sagt er mir nicht einfach, was er will?“

„Er – Gott – muss es doch wissen, was ich will“, könnte ich dem entgegnen. Doch er könnte sich denken: „Du musst es schon selbst wollen. Selbstmitleid gilt nicht.“

Und so kommt es, dass ich mit mir und Gott ein sehr sehr langes Zwiegespräch führe. Kritisch. Undankbar und zerfressen von Selbstmitleid. „Dann hilf mir doch!“, sage ich und füge dann noch schnell ein höfliches „Bitte“ an. Wenngleich der Tonfall insgesamt so höflich gar nicht war. Überhaupt, welcher Tonfall? Habe ich soeben schon wieder laut gesprochen? Ja.

Wie auch immer, ich habe Gott nun darum gebeten, mich wieder auf meinen Weg zu führen. Soll er mal machen. Für den Augenblick jedenfalls geht es mir schon besser, denn ein anderer wird sich jetzt meines Problems annehmen und ich brauche nicht mehr verzweifelt sein. Ich kann also für einen Moment einfach einmal geradeaus gehen, ohne nachzudenken. Und was, wenn Gott ein jüdischer Gott ist, oder ein arabischer? Ich muss lachen. Vermutlich wäre es diesem Gott völlig egal, wie wir ihnen nennen. Denn wenn es ihn gibt, dann ist es bestimmt ein weiser Gott, einer, der über den Dingen steht. Also sage ich einfach noch einmal halblaut: „Bitte hilf mir einfach, lieber Gott. Ich wünsche mir meinen Weg zurück. Bitte hilf mir. Bringe mich wieder da hin“.

Sage es und ein uralter weißer Pickup rollt ganz langsam vor mir aus. Jetzt blinkt er rechts. Hält er wegen mir? Zum Rennen fehlt mir die Kraft. Ich sehe aber: Er wartet und er kurbelt die rechte Windschutzscheibe herunter. „Brauchst du Wasser? Kann ich dir helfen? Wo möchtest du hin“, fragt mich Semi. Ich stelle mich kurz vor und sage ihm, dass ich den Israel-Trail verloren habe. „Da musst du wieder zurück. Komm, steig ein, ich bringe dich wieder zurück, wenn du möchtest.“ Semi wendet an einer Tankstelle und fährt mich wieder in Richtung Oren Picknick Point. Semi kennt sich aber aus und biegt rechts in einen kleinen Feldweg ein. Vor einem Stacheldraht-Tor steigt er aus, öffnet mir das Tor und sagt mit einer ausladenden Handbewegung: „Voilà, hier ist dein Weg.“

Semi lässt es sich nicht nehmen, mir eine Flasche Wasser zu schenken. Ohne etwas zu trinken wolle er mich auf keinen Fall losgehen lassen. Ich winke ihm noch und dann atme ich ganz tief durch. Was möchte Gott mir noch alles beibringen auf meinem Weg? Für den Augenblick bin ich froh, dass ich einfach nur gehen darf und immer wieder die blau-orange-weißen Markierungen sehe. Von nun an werde ich besser aufpassen. Ich werde üben, die Markierungen zu sehen. Ich werde mich darauf konzentrieren, mir die jeweils letzte Markierung einzuprägen. Mich regelmäßig umzudrehen, um zu sehen, wie der Weg in der Gegenrichtung aussieht. Ich werde mir markante Stellen einprägen und auswendig lernen. Die letzten fünf Wegpunkte müssen sitzen. Ich habe gelernt: In der Wüste darf mir das nicht passieren. Sonst bin ich – tot. Vielleicht war das meine Lektion.

Wenn Du als Israelblogger mit 13.000 Euro Gegensatndswert abgemahnt wirst…

… dann hast Du vermutlich alles richtig gemacht! So jedenfalls ist unser Fazit. Angelika Kohlmeier jedenfalls hat unseren Redakteur Christian Seebauer privat mit dieser irrwitzigen Summe abgemahnt. Auch wenn am Ende u.M. nach nichts daraus wird, bleibt Christian womöglich auf seinen Rechtsanwaltskosten voll sitzen. Ausser er würde seinerseits die Abmahnerin Angelika Kohlmeier verklagen. Wie unverschämt Angelika Kohlmeier gegen Blogger vorgeht, kannst Du hier lesen ->

Mit einem ideellen Kaffee kannst Du der Redaktion Mut zusprechen!

Ein Hod habe ich heute nicht gesehen. Aber das kann ich eines Tages als Tourist sicher nachholen. Und Nahal Me’arot, mein Tagesziel, habe ich irgendwie auch nicht gefunden. Passt zum heutigen Tag. Dafür wandere ich wieder in traumhafter grüner Natur und: Ich habe per Telefon einen Trail Angel gefunden, besser gesagt, eine Trail Angelin. Bei Noa darf ich heute im Garten mein Zelt aufstellen. Ich staune nicht schlecht, als ich Noa kennen lerne. Wir treffen uns auf einer schmalen Straße, die der Israel Trail nahe Kerem Maharal überquert. Noa braust im letzten Licht mit einem kleinen Wägelchen vor, der Sitz ist ganz nach hinten gerückt, denn Noa ist hochschwanger. Der Geburtstermin wäre heute! Und ihr Freund kommt frühestens morgen zurück. Trotzdem hat Noa am Telefon Ja gesagt und gibt mir eine Unterkunft. Im kleinen Garten finde ich einen schönen Platz für mein Zelt. Mittlerweile regnet es leicht. Noa lässt mich zum Duschen ins Haus und dann kommt die Überraschung: Noa kocht mir Nudeln mit Tomatensoße, frischen Zwiebeln und frischer Petersilie. Zum Reden bleibt keine Zeit. Beide sind wir hundemüde und so verzieht sich jeder sofort nach dem Essen zum Schlafen. Die Nacht verläuft dann recht ruhig. Nachwuchs kommt eben nicht nach Termin, sondern wann er oder sie es will.

Verbrannte Erde und Hoffnung

In der Asche der Waldbrände von Kerem Maharal nach Jisr a-Zarka

Etwa 30 Kilometer, ca. 580 Höhenmeter Gesamtanstieg. Trinkwasserverbrauch 5 Liter.

Heute bringt mich der Israel Trail zum Foresters House im Karmel Wald und weiter bis an das Mittelmeer. Doch zuerst werde ich heute erfahren, wie klein ein Mensch ist und wie groß Visionen sein müssen, um immer wieder von vorne anzufangen. Es geht um den Wald. Um den Wald im Karmel Gebirge, um genau zu sein. Hier fanden 2010 Waldbrände von schier unvorstellbarem Ausmaß statt. Bei diesem „Carmel Disaster“ wurden 17 000 Menschen evakuiert, mindestens 44 fanden den Tod und 1,5 Millionen Bäume gingen verloren. Von Isfiya bis zum Mittelmeer sind hier 15 000 Hektar komplett verbrannt. Wer sich als Tourist entsprechende Denkmäler auf einer Busreise ansieht, kann sich als Mensch diese Dimensionen wohl niemals annähernd vorstellen. Was sind 15 000 Hektar? Oder anders gesagt: Was sind 150 Millionen Quadratmeter? Man muss es wohl mit seinen eigenen Füßen durchwandern, um eine solche Fläche begreifen zu können, denke ich mir. Zwei Tage bin ich schon seit Isfiya unterwegs. Heute ist der dritte Tag, an dem ich die Carmel Mountains mit ihren Wäldern durchstreife. Oder sagen wir so: Ich durchstreife das, was noch übrig ist oder was schon wieder da ist. Schon seit Isfiya begleiten mich kahle Flächen. Ich sehe Reste der Waldbrände. Ich sehe Wiederaufforstung. Aber die letzten beiden Tage hatte ich Glück, denn der Israel Trail folgt hier weitgehend den Tälern, die von Feuer teilweise verschont blieben. Heute fühle ich mich wie ein kleines Sandkorn in einer großen niedergebrannten Fläche. Dieses riesige Gebiet zu Fuß zu durchwandern, beschert mir eine Gänsehaut. Auch heute noch, Jahre später, rieche ich die Asche in der Luft. Ganze Hügelketten bis hin zum fernen Mittelmeer sind praktisch bar jeglicher Vegetation. Das eigentlich Schlimme aber ist, dass hier in Israel nichts von ganz alleine wächst. Es ist nicht so wie bei uns in Deutschland, dass man eine solche Fläche einfach ein paar Jahre sich selbst überlassen könnte, bevor es wieder grünt. Wer hier als Lebenswerk Bäume gepflanzt hat und sie im Feuer verloren hat, der muss seine Seele verloren haben. Hier in langsamem Tempo durchzuwandern, zerreißt mir das Herz! Mag sein, dass man als interessierter Tourist auch einen Eindruck davon bekommt, aber hier allein zu sein ist schlimm. Für einen Augenblick beschließe ich, dass ich die Erde spüren möchte. Ich will Verbindung zu ihr aufnehmen, fühlen, was da ist. Ich ziehe meine Schuhe aus und setze einen Fuß vor den anderen. Ich spüre Dornen, Kiesel und ausgemergelte, rostbraune Erde. Ich kann den Verlust fühlen, als wäre es gestern passiert. Alte verkohlte Wurzelstränge riechen noch immer im Vorbeigehen, als würden sie schwelen.

In der Ferne bietet auch der Himmel ein merkwürdig trostloses Bild. Zwischen dem wenigen Blau und den Wolkenbändern liegt eine schmutziggelbe Luftschicht, so wie ein giftiges Schwefelband, das gerade einem Vulkan entstiegen ist. Kein Smog. Nur Sand aus der Sahara.

Und Gott sprach: Es lasse die Erde aufgehen Gras und Kraut, das Samen bringe, und fruchtbare Bäume auf Erden, die ein jeder nach seiner Art Früchte tragen, in denen ihr Same ist. Und es geschah so. (1.Mose 1,11; L)

Gerade komme ich über eine kleine Kuppe. Tausende und Abertausende von Holzstöcken ragen hier aus der Erde. Das kenne ich schon, nur nicht in solch gigantischem Ausmaß. Die Leute von KKL pflanzen hier einen ganzen Horizont neuer Wälder. Kann so etwas Gigantisches gelingen? „Ja“, scheint die kleine violette Blume neben meinem rechten Fuß zu sagen! Und tatsächlich: Da blüht etwas. Unweigerlich bücke ich mich zu ihr hinunter und berühre sie. Eine tapfere Vorreiterin, denke ich mir. Eine Pionierin! Dann hebe ich langsam meinen Blick und entdecke, dass auch die kleinen Bäumchen an den Holzstöcken ausgrünen. Wow! Hier gibt keiner auf. Großartig. Immer wieder stoße ich jetzt auf ein paar alte Bäume, die wie ein Wunder dem Feuer getrotzt haben. Sie geben den jungen Schatten und halten mit ihren Wurzeln die Erde fest. „Seht her, hier dürft ihr groß werden.“

Weil es ziemlich pikst, ziehe ich meine Schuhe wieder an und laufe weiter bergab. Im Forsters House treffe ich zwei Förster von KKL, die mir einen Kaffee anbieten, israelischen Kaffee! Der ist nicht vergleichbar mit unserem deutschen Wässerchen. Deutsche Spender haben hier anscheinend viel bewegt. Sogar kleine Unterkünfte für Pilger entstehen hier. Aber immer geht es um die Liebe zur Natur, um den Wald, die Tiere und die Menschen, die hier zu Gast sein dürfen. Nach meinem kurzen Besuch im Foresters House wandere ich zu den Denkmälern, die hier für Spender in einem kreisförmigen Areal errichtet wurden. Da stehen viele, die sich für die Wiederaufforstung engagiert haben. Menschen und Vereine aus allen Ländern der Welt. Doch dann staune ich:

Neben ganz normalen Tafeln stehen hier zwei, die ich so ganz und gar nicht erwartet hätte: Intel und Google. Rüttelt diese Tafel hier gerade an meinem Weltbild? Zugegeben, bis jetzt halte ich nicht wirklich viel von Google & Co. Klar, ich benutze es täglich. Aber sympathisch ist mir Google nicht. Da ist einfach zu viel Unbehagen dabei. Ganz grundsätzlich stehe ich mittlerweile, was Großkonzerne betrifft, eher auf einem recht radikalen Standpunkt: Wir brauchen sie nicht. Sie tragen keine soziale Verantwortung mehr. Sie sind gegen uns.

Und hier eine gute Tat von Google? Finde ich gut. Ganz ohne jede Polemik. Hätte ich so nicht gedacht. Helfen im Stillen, ohne großes Trara, ohne einen werbewirksamen Selbstzweck. So eine kleine Steinsäule finde ich da angemessen, nicht aufdringlich, nicht selbstherrlich. Hier reihen sich Google und Intel ein unter all die anderen, ganz normalen Spender, deren Namen ich noch nie gehört habe, denen ich jedoch meinen vollen Respekt zolle.

Es interessiert mich ja auch gar nicht, wer hier wie viel gegeben hat. Helfen ist kein Wettbewerb. Wer hier auch nur 20 Euro dem KKL gegeben hat, gibt dem großen Ganzen eine echte Chance. Leider habe ich nichts dabei, um heute etwas zu geben. Gerne hätte ich es getan. Aber hier sitze ich gerade und denke nach. Ich muss weiter. Die beiden Förster winken mir noch nach und rufen etwas auf Hebräisch hinterher. Bestimmt so etwas wie „viel Glück“ oder „alles Gute“. Ich habe es schon öfter gehört und es kommt mir vor wie Schulterklopfen.

Noch einmal gehe ich zurück in den Wald, folge den Markierungen und überwinde einige Höhenmeter. Gleich hinter dem Foresters House muss ich meine Hände benutzen. Der Trail folgt einem fast trockenen Bachlauf bergauf. Idyllisch ist es hier und stockfinster. Mit meinem Fotoapparat muss ich lange belichten. Es ist schon Nachmittag. Wo soll ich bleiben? Wohin soll ich gehen? Heute möchte ich noch bis an die Küste wandern, Salzwasser riechen! Nicht ganz einfach, denn meine Glieder sind schon ziemlich müde und ich befinde mich, nach dem Reiseführer zu schließen, schon wieder zwischen den vorgesehenen Etappen. Wenn ich alles samt Umwegen zusammenzähle, komme ich heute wohl auf knappe 40 Kilometer und fast 1 000 Höhenmeter, wenn ich das Meer erreiche.

Von einer alten Dame bekomme ich zwei Äpfel geschenkt, die mich klein, sehr klein, machen. Und eine Gruppe junger Leute gibt mir Wasser. Die Mädels sehen aus, wie aus dem Flower-Power entsprungen. Ob sie was geraucht haben? Ich weiß es nicht. Spontan umarmen sie mich alle gleichzeitig und beginnen mit mir zu tanzen. Heute beginnt im Gehen so eine Art Rauschzustand für mich. Rausch trifft es nicht wirklich. Vielleicht ist Trance das bessere Wort. Allein heute bin ich so weit gekommen, habe so viel gesehen, alles zu Fuß, dass mein Gehirn es offenbar gar nicht mehr verarbeiten kann. Glücksgefühle durchströmen gerade meinen gesamten Körper. Ich fühle mich leicht wie ein Schmetterling und spüre unglaubliche Kräfte, die mich weiter und weiter tragen. Es geht an einer byzantinischen Quelle vorbei. Verlaufen, wieder zurück, wieder an den Mädels vorbei. „Hello, hi, good luck!“

Weiter geht es auf engen Fußpfaden über Lehm. Ich rieche es: Das Meer ist nicht mehr weit. Serpentine über Serpentine führt mich durch einen endlosen Dschungel in unglaublicher Landschaft. Noch eine Kurve, noch eine und dann – stehe ich hoch oben über der Mittelmeerküste. Tiefes Blau breitet sich vor meinen Augen aus. Zwei Wochen Fußmarsch haben mich an diesen Aussichtspunkt gebracht. Es ist schon kühl, später Nachmittag, leicht bewölkt. Hier möchte ich Pause machen, ein wenig essen.

Ich spüre einen tiefen Frieden in mir. Egal, was immer auch passiert, heute bin ich nicht mehr in Eile. Leider ist mein Handy-Akku leer, sonst würde ich jetzt meine Familie anrufen. Dasitzen und auf einem Stück Pitabrot herumknabbern tut gut. Ich habe es noch von Isfiya, von der arabischen Familie. Und ich habe noch das Lächeln vor meinen Augen, mit denen sie mir das Brot geschenkt haben. Nicht einfach so, sie haben mich an beiden Armen genommen und Glück gewünscht. Jetzt ist dieser glückliche Moment da, wo das kleine Brot für mich noch einmal eine ganz besondere Bedeutung gewinnt. Auch die ältere Dame, die mir die Äpfel geschenkt hat, werde ich in meinem Leben niemals mehr vergessen. Sie hat sich, weil sie auf meiner Hose unterschreiben wollte, vor mich hingekniet.

Wie weit ich hier in Israel kommen mag? Ich bin schon angekommen. Mehr kann man gar nicht sehen, nicht fühlen und nicht erleben. Langsam nähern sich aus der Ferne zwei junge Urlauber, die hier mit Schlappen den Berg zu mir heraufkommen. Beide sind sie so zwischen 18 und 20, dem Akzent nach Russen. Beide sind total erschöpft und fragen mich, wie weit es noch zur byzantinischen Quelle sei. Ich frage sie jedoch erst einmal, so wie alle anderen es mit mir gemacht haben: „Braucht ihr Wasser?“ Und beide setzen sich sofort hin und sagen: „Ja, bitte.“

Bald gehe ich wieder allein. Es war ein gutes Gefühl, helfen zu dürfen. Mein rechter Fuß macht mir Probleme. Er schmerzt extrem und ich beginne zu humpeln. Vom Meer her weht mir ein angenehm warmer Wind entgegen. Unter mir sehe ich grüne Felder, Wiesen, Landwirtschaft. Der Weg selbst führt mich auf einem scharfkantigen und felsigen Hochplateau parallel zur Küste. Der Ausblick ist einzigartig und sensationell.

Nach dem Abstieg geht es über die Schienen und an einem mit Schilf gesäumten Bachlauf zur Küste. Was mit dem Auto in wenigen Minuten zu bewerkstelligen wäre, fordert meine letzte Kraft und viel Zeit. Erst als es schon fast dunkel ist, erreiche ich den Strand. Es ist ein unwirkliches Bild, was sich mir als Wanderer hier bietet. Frisches Meerwasser rauscht über meine nackten Füße. Links und rechts ist der Strand kilometerweit völlig unverbaut. Neben mir befinden sich ein paar kleine Hütten. In einigem Abstand sehe ich ein paar Fischer und spielende Kinder, die von mir keine Notiz nehmen. Einen der Männer spreche ich dann doch an und frage, ob ich hier neben den Hütten übernachten darf. Er meint, dass es oben im Dorf eine Herberge gäbe, die er mir unbedingt persönlich empfehlen möchte. Ich gehe also einen knappen Kilometer zurück nach Jisr a-Zarka.

Darf man Vorurteile haben? Vorurteile sind manchmal nur eine Bezeichnung für das, was man auch als Bauchgefühl bezeichnen könnte. Und mein Bauchgefühl wird gerade mit jedem Meter hinein in dieses Dorf schlechter. Ich komme mir hier sehr fremd vor. Oder anders herum, die Menschen kommen mir hier sehr fremd vor. In Israel trifft man ja fast überall auf Europäer. Menschen, die auch so aussehen wie du und ich. Menschen, deren Mimik und Gestik sofort vertraut ist. Und es sind stille Menschen. Vornehm. Nicht aufdringlich. In Jisr a-Zarka bekomme ich ein total beklemmendes Gefühl. Das sind gar nicht die Menschen, die ich bisher gesehen habe. Hier fahren halbstarke Araber in getunten Autos herum. Sie sehen aus wie in der Bronx, machen einen auf bösen Rapper. Von tausend Augen werde ich beäugt. Werden sie mich überfallen? Mich berauben? Bei diesem Gedanken muss ich lachen, denn außer dem Foto meiner Familie habe ich nichts bei mir, was mir wirklich etwas bedeuten würde.

Schließlich komme ich gut an und stehe mitten an der Hauptkreuzung des kleinen Dörfchens vor Juha’s Guesthouse. Am Empfang sieht es sehr nett aus. Ahmad empfängt mich sehr höflich. Doch ich habe ja kein Geld. Um mir jegliche Zeit zu sparen unterbreche ich Ahmad’s begeisterte Präsentation über sein Guesthouse mit einem knappen „Sorry, I have no money“.

„No money…?“ hallt es nun aus den Lippen Ahmads und zeitgleich verstummen gut zehn junge arabische Burschen. Noch einmal lässt Ahmad sich „Noooo money“ auf den Lippen zergehen und dann fängt er lauthals an loszulachen.

Hey man, I can give you reduce – but no money?“ Ahmad kennt es wohl nur zu gut, dass Pilger auch mal handeln möchten. Und Handeln entspricht ja durchaus der arabischen Mentalität. Aber dass hier einer von vornherein ein „Njet“ in die Runde wirft, findet er irgendwie frech und witzig. Schon höre ich von den Hinterbänken „Hey Ahmad, ich hab grad kein Geld, machst mir du Tee?“ Jetzt lachen wirklich alle. Ahmad möchte die Situation galant aus der Welt schaffen und meint zuvorkommend: „Kein Problem, wie nehmen auch Kreditkarten. Du kannst morgen bezahlen.“

Irgendwie scheint mir Gott gerade die richtige Eingebung zu geben. Er lässt mich sagen: „Danke Ahmad. Ich möchte dich um ein Glas Wasser bitten. Ich trinke es draußen, bevor ich gehe.“ Dann frage ich ihn, warum hier lauter Araber sind und ich frage auch, ob sein Guesthouse neu ist. Ohne eine Antwort abzuwarten, bedanke ich mich noch einmal, drehe mich um und gehe. Aber ich habe die Rechnung ohne Ahmad gemacht.

Von hinten zieht er meine Schulter zurück und sagt: „Weil Jisr a-Zarka ein arabisches Dorf ist.“ Ahmad deutet auf einen von den Jungen besetzte Stuhl und sagt zu mir: „Setz dich, bitte.“ Wie auf Geheiß stehen die vier jungen Burschen auf und überlassen uns den Tisch. „… und weil wir etwas tun müssen hier“, fährt Ahmad fort. „Etwas tun gegen die Vorurteile. Und etwas tun für die jungen Leute hier. Jisr a-Zarka heißt übersetzt: Die Brücke über den blauen Fluss. Sie soll uns in eine gute Zukunft führen. Und die müssen wir nun endlich in die Hand nehmen.“

„Warum bist du zurückgekommen?“ fragt Ahmad mich. Er hat es also mitbekommen, dass ich vom Strand zurückgekehrt bin. „Ich hatte ein wenig Angst“, sage ich ihm.

„Ja“, meint er, „So geht es vielen. Jisr a-Zarka war die Stadt mit der höchsten Kriminalitätsrate in Israel.“ „War!“ betont er noch einmal. „Wir wollen das ändern. Und wir haben schon viel geändert.“ Ahmad erzählt mir, dass noch nie einem Touristen hier etwas passiert sei. Ganz im Gegenteil sei es so, dass wirklich jeder auf der Straße von der Zukunft träume, von einer besseren Zukunft eben. Noch einmal fragt Ahmad mich irgendetwas, doch ich komme auf meine Frage zurück. Juha’s Guesthouse ist eines von vielen Projekten, die den Menschen hier eine Zukunft geben sollen. Sie soll Urlauber hierher bringen. Ahmad schwärmt von Bildung. Es sei der Schlüssel für den Frieden. Dann sind wir plötzlich beim Koran, bei der Bibel. Bei „guten“ und „bösen“ Palästinensern, bei vertanen Chancen, bei Träumen und Visionen und – bei einer Tasse Tee. Wie lange ich bleiben wolle, fragt mich Ahmad.

„Bis morgen“ antworte ich ihm brav, weil ich das Gefühl habe, sein Gast zu sein. Ich teile mir den Schlafbereich – schön getrennt – mit einer finnischen Studentin, die hier in Jisr a-Zarka wie viele andere Studenten Projektarbeit macht. Ehrenamtlich! Einer der jungen Burschen kommt plötzlich an unseren Tisch und überreicht mir mein gelbes Handy. „War draußen auf der Mauer“, meint er. Dort hatte ich ein Selfie geknipst und mit der Kamera Aufnahmen gemacht – und mein Handy liegen gelassen. Dass der junge Mann mir mein Handy brachte, entsprach auch nicht meinen Vorurteilen.

Ahmad lädt mich heute Abend noch zu seiner Familie zum Abendessen ein. Im Kreise seiner kleinen Kinder und seiner Frau bekomme ich Suppe, Hirse und Tee. Und Brot für morgen und: Einblick in das Leben hier. Wieder muss ich erfahren, dass nichts hier so ist, wie uns Medien das reduziert weißmachen wollen. Ahmads Frau ist muslimisch und durchaus emanzipiert. Ahmad behandelt sie mit großem Respekt und liebevoll. Über Israel reden sie ganz anders, als man denken mag. Ahmad liebt Israel. Es ist seine Heimat. Er hat Visionen und Ziele. Eine gute Ausbildung für seine Töchter zum Beispiel. Und er sagt, dass man für sein Land auch etwas tun müsse, etwas geben, wenn man kann. Man dürfe es sich nicht zu leicht machen. Nicht immer nur die Schuld bei anderen sehen.

„Hast du die vielen Wälder gesehen“ fragt Ahmad mich. „Ja“ antworte ich ihm und Ahmad meint „So etwas haben ‚die’ nicht“. Ahmad sagt „die“, womit er wohl „die“ Palästinenser oder „die“ Araber meint. „Wir alle müssen lernen, dass wir die Welt gut machen. Grün muss sie sein. In den Meeren müssen Fische schwimmen. Das geht uns alle an. Auf dem Boden muss Wald wachsen. Und wir müssen aufhören, den Wald anzuzünden. Ja, wir müssen noch viel lernen.“

Ahmads Frau ist gerade aufgestanden und geht in die Küche. Ahmad schweigt. Ich denke, dass ich nicht einmal ansatzweise erahnen kann, was Ahmad mir da gerade sagen wollte oder will. Ich schweige auch. Ahmad und ich haben uns bis tief in die Nacht unterhalten. Was ich höre, ist Liebe und Hoffnung. Was ich nicht höre, sind Verbitterung oder radikale Positionen. Ich gehe zurück zu Juha’s Guesthouse und plötzlich erscheinen mir die „dunklen Gassen“ gar nicht mehr so dunkel. Hier tut mir niemand etwas. Ich schlafe diese Nacht tief und gut und träume davon, dass sich die Menschen hier alle umarmen.

Als Penner am Poleg Beach

Strandlauf von Jisr a-Zarka nach Poleg Beach (Netanja).

Etwa 38 Kilometer, ca. 280 Höhenmeter Gesamtanstieg. Trinkwasserverbrauch 7 Liter. 35 Grad Lufttemperatur.

Wow, was für ein schöner Tag! Im ersten Morgenlicht verlasse ich „Brücke über den blauen Fluss“. Für mich war es die Brücke in eine andere Welt. Und doch gehe ich heute ganz anders durch die Straßen hier. Mich auf Fremdes einzulassen, war es wert. Heute erscheinen mir die finsteren Blicke von gestern alle fröhlich. Ein kleiner Junge äugt hinter einem Zaun hervor. Als er sieht, dass ich ihn entdeckt habe, winkt er mir zu. Auch Erwachsene winken mir, was ich so eher nicht kenne. Auf dem Weg heraus höre ich immer wieder „Welcome“. Und die Rapper von gestern erscheinen mir heute Morgen eher als Jugendliche, aus denen noch etwas werden kann. Ein paar von Ihnen hupen mich an und grüßen. Es ist ein schöner Abschied.

Nach nur einem Kilometer erreiche ich wieder den Strandabschnitt, an dem ich gestern schon war. Ich kann es kaum glauben, dass der Israel Trail hier einfach völlig wild über den herrlichen Sandstrand verläuft. Die kleinen Holzboote in Fishermen’s Village liegen noch ganz ruhig auf dem spiegelglatten Wasser. Der Fischer von gestern ist wieder hier. Auch er winkt mir zu und deutet mit seinem Arm nach links: „Da geht’s weiter.“

Vor mir liegt ein weiter, völlig unverbauter Strand. Idyllisch. Das Hinterland säumt eine hohe Düne. Sandig, aber auch grün. Am Strand laufen weit entfernt einige Menschen umher. Manche lassen ihre Hunde laufen, andere joggen hier das Ufer entlang. Fröhlich geht es hier zu, und ganz gemischt. Trotzdem ist es sehr überschaubar und besinnlich. So wie irgendwo anders außerhalb der Saison, wo sich nur ganz wenige an den Strand verirren. Schon lange habe ich mich auf diese Strecke an der Meeresküste gefreut. Nach den gebirgigen letzten Etappen in Israels Norden endlich einmal flach. Andererseits habe ich mir zu Hause eine dicht besiedelte Küste vorgestellt, an der man tagelang auf geteerten Strandpromenaden wandern muss. Weit gefehlt! Ohne jetzt Länder zu nennen, wo ich schon am Strand laufen wollte, überrascht mich Israel hier absolut positiv.

In vielen Ländern der Welt ist es ja noch nicht einmal möglich, überhaupt am Strand zu wandern, weil überall irgendwelche Clubs einzäunen, was nur geht. Oder man wird auf Schritt und Tritt belästigt. Oder alles ist zugebaut, Hotel an Hotel. Nun, das kann ja noch kommen. Aber fürs Erste genieße ich diese riesengroße Freiheit, die ich hier verspüre. Nur in einem Punkt habe ich mich getäuscht: Dass es leicht sein würde, am flachen Strand zu laufen. Heute habe ich bisher fünf Kilometer zurückgelegt. Vielleicht sind es auch sieben oder acht. Und es ist sehr, sehr anstrengend. Meine Füße sinken hier mit jedem Schritt ein. Mein Rucksack bäumt sich auf zur Überlast. Und schlagartig schnellt die Temperatur in die Höhe und zeigt mir, wo ich bin: In Israel!

Ich wünsche mir sofort die kühlen Wälder und Berge zurück. Hier am Strand leide ich mit jedem Meter. Andererseits ist die Kulisse vor mir so unwirklich schön, dass es mir die Sprache verschlägt. Ich führe auch gerade keine Selbstgespräche! Hier her werde ich mit meiner Familie in den Urlaub fahren. Genau hierher! Wie könnten meine Kinder hier im Sand spielen und frei herumtoben! Hier muss niemand sein Claim abstecken. Oder mit einem Handtuch etwas reservieren. Nein, hier ist die Traumküste einfach so da. Für jedermann.

Körperlich ist es für mich gerade recht anstrengend. Ich bekomme einen kleinen Hinweis, was Hitze und Sand bedeuten können. Es ist ein Hinweis mit dem Vorschlaghammer. Gerade kommt mir eine junge Joggerin mit hochgesteckten blonden Haaren entgegen. Sie hat Stöpsel im Ohr und trägt ihr Handy als Bordcomputer am Arm. Egal, ob ich sie störe. Ich halte sie an und frage sie, ob sie ein Foto von mir machen kann. Sie lacht und wischt sich erst einmal den Schweiß von der Stirn. Klar macht sie ein Foto von mir und verschwindet dann ebenso schnell in der Ferne des Strandes wieder. Zu Hause hätte sie mir wohl den Atem verschlagen und den Kopf verdreht. Bestimmt hätte ich es mit irgendeinem blöden Spruch versucht. Und ebenso sicher hätte ich mich garantiert lächerlich gemacht als hormongesteuerter Papagallo, wäre abgeblitzt oder im schlimmsten Fall gar nicht erst beachtet worden.

Die, die da gerade vor mir stand, könnte definitiv in jedem Film mitspielen oder von jedem Prospekt herunter lächeln. Und sie hat mich angelächelt. Für einen kurzen Augenblick hat sie mich elektrisiert. Nur eben, dass ich ihr hier nicht als „Mann“ begegnet bin. Das Wandern macht den großen Unterschied. „Mann“ ist von einer anderen Welt. „Mann“ ist reduziert auf das Gehen, auf Trinken, Schlafen und Essen. In genau dieser Reihenfolge. Und „Mann“ ist erschöpft. So erschöpft, dass „Mann“ sich endlich auch nach außen hin aufgeben darf. „Mann“ muss nicht mehr irgendeine blöde Rolle spielen. „Mann“ muss sich nicht mehr wie ein bunter Papagei präsentieren, nicht mehr unter Strom stehen und den anderen die perfekte Show abliefern. Nein: Hier muss man gar nichts liefern.

Hier ist „Mann“ zur Ruhe gekommen. Und genau das spüren wohl andere auch. Es ist schön, keine Mauer mehr um sich zu haben. Es ist wunderbar, ein Lächeln zu schenken, anstatt blöde Phrasen zu labern. Und es ist so wertvoll, ein solches zurückzubekommen. Nicht als Idiot mit der Rolex am Handgelenk. Auch nicht als Trottel, der seinen Arm lässig aus dem Autofenster hängen lässt. Nein, ein Lächeln für dich als Penner. Ein Lächeln für dich als Clochard, als Bettler. Ein Lächeln für dich als letztes Glied in der Kette. Für dich, als Person, die keinerlei Macht und keinerlei Status mehr hat.

Nein, Selbstgespräche habe ich heute noch nicht geführt. Aber ich drehe mich gerade mit weit ausgebreiteten Armen um meine eigene Achse. Kein Tango, kein geordneter Tanzschritt. Aber ja, es ist ein Freudentanz, weil ich mein Leben wieder als ganz echt, als völlig unverfälscht wahrnehme. Gott, ich danke dir. Ich fühle wieder. Ich bin glücklich mit mir selbst. Glücklich, so glücklich wie ein kleines Kind.

Irgendwann stoße ich dann auf eine große Gruppe israelischer Wanderer, die gerade in einer einsamen Bucht Brotzeit machen. Bestimmt sind es hundert, vielleicht sogar zweihundert Leute. Und sie sind ganz gemischt. Kinder sind dabei, sehr viele Jugendliche, aber auch Alte, ganz alte. Das Geschehen ist bunt. Je näher ich komme, um so lauter, umso fröhlicher wird es. Dann schallt es mir entgegen „Shvil Israel?“. „Yes“ rufe ich fröhlich zurück. Aus der Masse kommt einer auf mich zu, der viel ruhiger und gelassener ist als die anderen. Es ist Denny, der Tourguide. Denny erklärt mir, dass sich hier mehrere Gruppen zur Brotzeit treffen und dann als verschiedene Gruppen wieder weiter gehen. Drei Tage werden sie unterwegs sein. Gepäck wird gefahren. Für Verpflegung wird gesorgt. Gehen müssen sie aber alle selbst, sagt er und lacht laut. Denny reicht mir sein Sandwich, in das er gerade selbst rein gebissen hat. „Nimm!“ meint er. „Magst du Thunfisch?“ Und wie ich Thunfisch mag. Ein paar Kalorien kann ich dringend gebrauchen. Und so einen Wanderausflug für ein paar Tage zusammen mit anderen könnte ich mir auch vorstellen. Bestimmt eine schöne Sache. Gut gestärkt gehe ich weiter im Sand. Ich genieße das Alleinsein. Und ich genieße die Weite, die sich da vor mir auftut.

Am Nachmittag erreiche ich dann den Küstenstreifen von Netanja. Im Flirren der heißen Luft tauchen Hochhäuser auf. Netanja hat knapp 180 000 Einwohner und liegt zwischen Hadera und Tel Aviv. Das Klima ist subtropisch. Trotzdem kann ich weiter am Strand laufen. Auch hier in Netanja sind die Strände frei und weitläufig. Es ist heiß geworden. Langsam neigt sich mein Wasservorrat dem Ende zu. Sieben Liter habe ich bis jetzt schon getrunken. Mein persönlicher Rekord, würde ich sagen. Trotz alledem war ich nur ein einziges Mal Wasser lassen. So wie am Miami Beach stehen hier Holztürme der Rettungsschwimmer. Und gleich den ersten nehme ich mir vor. Ich steige hinauf und klopfe an. Jethro öffnet mir die klapprige Holztüre, mustert mich und meint „Israel Trail?“ Jethro fragt mich sofort, was er für mich tun könne, woher ich käme und ob ich baden möchte. Ich frage Jethro nach Wasser. Er lacht und witzelt „Salzwasser? Oder echtes Wasser zum Trinken?“

Jethro begleitet mich von seinem Holzturm herunter und führt mich gut 50 Meter hin zu einem kleinen Wasserhahn, an dem man sich die Füße abspülen kann. Als ob er meine Frage geahnt hat, entreißt er mir meine erste Trinkflasche, befüllt sie kurz und trinkt dann selbst daraus. „Du kannst es trinken. Du kannst das Wasser in Israel überall trinken. Du brauchst keine Chlortabletten!“ Jethro labert nicht nur so dahin. Er macht es mir einfach vor. Ganz so, wie man einem kleinen Kind irgendetwas vormacht, damit man es auch macht. Ich muss grinsen, bin aber echt beeindruckt. Zusammen mit ihm trinke ich abwechselnd meine erste Flasche leer.

Jethro verabschiedet sich rasch von mir, weil er wieder auf seinen Posten muss. Ich fülle alle Wasserflaschen wieder auf und mache meinen Rucksack somit zehn Kilogramm schwerer. Schon nach fünf Minuten weiß ich: Das schaffe ich nicht, in der Wüste aber muss ich es schaffen. Hier bin ich noch nicht soweit. Und ich bin auch noch nicht soweit von der Zivilisation entfernt, dass ich heute Nachmittag noch zehn Liter Wasser benötigen würde. Daher nehme ich meinen Rucksack wieder ab und leere einige Flaschen aus. Dabei habe ich ein unglaublich schlechtes Gewissen, weil ich gerade von einer älteren Frau beobachtet werde, die ihren Kopf schüttelt. Was Wasser hier in Israel bedeutet, werde ich erst später erfahren.

Am Spätnachmittag erreiche ich Poleg Beach. Der Strand ist bekannt für seine Schönheit und für die Kitesurfer, die hier akrobatische Kunststücke vollführen. Ich muss erst einmal stehen bleiben und an meinem Fuß die erste Blase auf meiner Reise verarzten. Dann geht es von einer Anhöhe abwärts zum Poleg Beach. Ein wenig erinnert mich die Kulisse an den Varadero Beach in Kuba. Weißer Sand, Dünen und karibisches Flair.

In einem kleinen Strandrestaurant frage ich, ob ich etwas Wasser bekommen kann und ob ich hier windgeschützt mein kleines Zelt aufschlagen darf. Die nette Kellnerin nickt und nimmt meine leere Plastikflasche entgegen. Was nun folgt, ist exakt die Szene, die ich aus dem Allacher Sportgeschäft schon kenne. In der Theorie, als Déjà-vu-Erlebnis, sozusagen. Sogar die beiden Chefs scheinen äußerlich wie innerlich exakt identisch zu sein. Das Blut stockt mir in den Adern. Schlagartig fühle ich mich unwohl. Wie in Zeitlupe spielt sich alles ab. Wie in einem schlechten Film. Der Chef dreht sich mit einem verächtlichen Blick kurz zu mir, dann zur Kellnerin mit der Wasserflasche in der Hand. Er packt sie brutal an der Hand, zeigt mit der anderen auf mich. Die Plastikflasche fällt zu Boden. „Raus hier, verschwinde“, scheint er auf hebräisch zu sagen. Ich verstehe es ganz genau. Jedes Wort. Und in schlechtem Englisch ruft er mir nach: „Kein Wasser hier! Kein Zelt! Verpiss dich!“.

Sofort gehe ich, lasse die Plastikflasche zurück. Doch dann folgt mir einer der Gäste. Er bringt mir meine leere Flasche. Er ist Russe. Und mit starkem russischen Akzent sagt er zu mir: „Auch Russe, aber Arschloch. Ist Geld in Kopf gestiegen, ist Schande. Wir nicht so!“

Dimitri, so heißt er, sagt mir, dass ich hier – einige hundert Meter weiter – warten soll. Dann kommt er zurück, mit seiner Frau oder Freundin, einer Flasche Wodka und drei Gläsern. Mit Dimitri und Lena sitze ich nun hier am Strand. Was uns verbindet, ist fürs erste nur der Alkohol. Dimitri ist wohl einer der Superreichen. Er lebt in einer völlig anderen Welt. Dennoch scheint er so etwas wie ein ausgeprägtes Gerechtigkeitsgefühl zu haben. Oder Mitleid. Ich weiß es nicht. Dimitri erzählt mir jedenfalls, dass er früher nichts hatte. So wie ich, merkt er an. Ausgelacht worden sei er, überall abgewiesen worden sei er mit seinen Ideen. Dann lacht er selbst, mit seiner rauen Stimme. „Heute bin ich der, der lacht. Na zdoróv’je!“

Eine Einladung zu Dimitri nach Hause lehne ich ab. Ich möchte hier in meinem Zelt schlafen. Auf die Frage, ob ich hier mein Zelt aufstellen kann, meint Dimitri „Israel sicheres Land. Gutes Land.“ Dann sagt er: „Wenn dir was tut, morgen tot.“ Dimitri lacht schallend. Er hat einen schwarzen Humor, oder eben eine Macht, die in meiner doch recht beschaulichen Welt gar nicht vorstellbar ist. Gut, dass Dimitri sich selbst zehnmal so oft nachschenkt, wie mir. Und so gehe ich kurz vor Sonnenuntergang beschwipst, aber nicht betrunken, weiter am Strand. Kitesurfer haben mir noch ein paar getrocknete Bananen geschenkt.

Mein Zeltplatz ist heute an Idylle durch nichts mehr zu überbieten. Ich blicke auf einen Traumstrand, der sich im Abendlicht golden färbt. Nur noch ein Kitesurfer zieht da auf dem Wasser seine kunstvollen Bahnen. Er fasziniert mich. Erst als er an Land kommt, sehe ich, dass „er“ eine „sie“ ist. Es wird Zeit für meine getrockneten Bananen und für meine kleinen Pitabrote. Schnell wird mir kalt. Ich verkrieche mich mein Zelt und fühle mich geborgen. Dimitri hat schon Recht, wenn er sagt, Israel sei ein sicheres Land. Hier kann man im Freien schlafen. Sicherlich auch als Frau. Niemand würde dir hier etwas tun oder dich gar bestehlen. Israelis sehen in dir als erstes einen Menschen, den man fragt, ob er Hilfe braucht. Sich gegenseitig zu helfen, scheint eines der elementaren Werte zu sein, auf das ich hier täglich stoße.

Dass ich heute einem „Arschloch“ begegnet bin, wie Dimitri es gesagt hat, sehe ich so gar nicht. Ich bin da heute eher einem begegnet, der gefangen ist in seiner Welt des Raffens und Nehmens, in einer Welt der Gier. Aber ihm selbst wird es nicht besser gehen, als es mir heute ergangen ist. So wie er mich heute behandelt hat, wird er selbst wohl von seinen Geschäftspartnern und seinen Banken behandelt. Er kennt es nicht anders. Und trotzdem ist er hier auf dieser Welt, um eine bestimmte Aufgabe zu erfüllen, um einen Sinn zu finden. Vielleicht muss er heute mehr leiden, als ich selbst. Vielleicht bin nicht ich das Opfer in Person. Womöglich ist er es selbst. Seine Verzweiflung, zu raffen, zu funktionieren, zu liefern. Vielleicht hat er in mir sein Spiegelbild gesehen. Eins, das ihm voraus ist. Ein spiegelverkehrtes Bild, das ihm zeigt: „Hey, hier draußen ist die Welt. Und hier draußen ist die Liebe!“

Ich habe kein gutes Gefühl, wenn ich meine Gedanken Revue passieren lasse. Ich kann mich nicht über ihn erheben, als etwas Besseres darstellen. Ganz im Gegenteil. Der „Chef“ war ein Spiegel für mich. Er hat mich in den hässlichen Teil meines Ichs blicken lassen. Mit Abstand, aber doch in aller Deutlichkeit. Dafür danke ich ihm.

Nein, nicht Dimitri war in diesem Spiel der Gute. Und auch nicht ich. Vielleicht war er der Gute. Der, der mit seinen Gefühlen kämpft. Der, der spürt, dass Kälte ihn selbst zerfrisst. Und der, der spürt, dass er seinen Weg noch nicht gefunden hat. Eines Tages wird er selbst den Israel Trail beschreiten. Bis dahin wird er vielleicht noch viele Seelen abweisen. Doch eines Tages wird er sich selbst auf den Weg machen. Suchen, was all die anderen vor ihm schon gesucht haben: Sich selbst. Er wird erkennen, wie klein er wird. Wie dankbar er für ein Lächeln ist. Er wird lernen, wie zerbrechlich er ist, hinter seiner Gucci-Brille. Und er wird sehen, wie verdammt schwer es ist, andere um Brot und Wasser zu bitten. Um Hilfe zu bitten, für die es keinen Gegenwert im marktwirtschaftlichen Sinne gibt. Aber er wird auch zu den gleichen Schlüssen kommen wie ich. Dass man für die, die einem geholfen haben, beten kann. Und dass man, wenn man sich überwindet, auch damit beginnt, für die anderen zu beten. Für die, die einfach noch nicht über ihren Schatten springen konnten, aber es innerlich irgendwann möchten.

Es war ja nicht einfach ein gleichgültiges Nein. Es war ein wutentbranntes, selbst-zerfressenes Nein. Ein Nein, das in ihm selbst viel mehr Schaden anrichtet, als in mir, der statt seinem Wasser nun einen Wodka bekam. Während ich einschlafen will, bin ich ihm – dem Chef – irgendwie verbunden. Ich möchte mich bei ihm bedanken. Ich bete für ihn. Und ich schicke ihm gute Wünsche für sich und seine Familie in das Universum.

Der erste dieses Jahr

Das ist dann eines der nächsten Kapitel…

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    Textauszug Israel-Trail.com Von Isfiya nach Kerem Maharal Israel National Trail dritte Woche Shvil Israel: Warum betet er nicht? INT: Von Isfiya nach Kerem Maharal Etwa 23 Kilometer, 430 Höhenmeter Gesamtanstieg. Trinkwasserverbrauch 4 Liter. Aufstehen, losgehen! So war das bei der Bundeswehr. Heute sage ich ganz bewusst: Aufstehen und losgehen dürfen. Nichts, was dich aufhält. Bereit sein für die Natur – und die beginnt gleich ganz großartig. Weil ich die Nacht nicht in Freien verbracht habe, konnte ich auch ein wenig länger schlafen. Pünktlich zum Sonnenaufgang stehe an Gilads Tür und darf wandern. Die Sonne taucht Isfiya in ein unwirkliches, orangefarbenes, nebliges Licht. Ich werfe gerade einen langen Schatten vor mir her, als ich in den Wald eintauche. Vom Städtchen habe ich nicht viel mitbekommen. Der Israel Trail führt von der Natur sofort wieder in die Natur. Trotzdem möchte ich all die schönen Orte hier eines Tages auch einmal als normaler Tourist erleben, vielleicht auch ein wenig erklärt bekommen, irgendwo auch eine Spezialität essen. Dafür sehe ich all die schönen Dinge, die dem normalen Urlauber stets verborgen bleiben. Ich sehe das Land und ich sehe die Herzen. Stundenlang wandere ich heute schon durch den Wald. Es sind die Wälder der Carmel Mountains. Bis auf kleine Steigungen geht es heute nur bergab. Von 550 Meter über Null werde ich heute Abend wieder fast bei Null ankommen. Dazwischen liegen noch ein paar Hügel, die es zu überwinden gilt. Aber mit guten achtzehn Kilometern ist die heutige Etappe doch recht erholsam – dachte ich. Israel Trail: Ausrüstung auf wenige Dinge reduziert. Zuerst einmal genieße ich mein Dasein, wie es ist. Mein Leben hat sich auf ganz wenige Dinge reduziert: Meine Schritte, meinen Puls und meine Empfindungen in der Natur. Und letztere scheinen jeden Tag mehr und mehr zu werden. Ich kann wieder richtig riechen. Viel mehr als zu Hause. Und ich höre tief hinein in den Wald, der mich heute Schritt für Schritt begleitet. Grüner Wald, so weit das Auge reicht. Und alles ein Katzensprung heute. Abwärts geht es, dem Mittelmeer entgegen. Morgen werde ich es erreichen. Heute möchte ich mir noch Ein Hod ansehen, das berühmteste Künstlerdörfchen in Israel. Es liegt direkt am Weg. Und weil ich selbst ja nun endlich Künstler bin, möchte ich mich auf die Kunst der anderen einlassen. Nach Ein Hod folge ich dem Israel Trail. Doch dann wird es verwirrend: Plötzlich scheint der Israel Trail in verschiedene Richtungen zu gehen. Einmal halb links. Dann geradeaus, sprich steil nach oben und dann sehe ich noch Zeichen, die rechts abzubiegen scheinen. Scheinen deshalb, weil ich vermute, einer der Wegweiser ist hier umgefallen oder umgestoßen worden. Aber man weiß ja nie. Aber wozu brauche ich schon Wegmarkierungen, ich habe ja auch mein Red Book dabei. Der Reiseführer von Jacob Saar hat sich bis jetzt als äußerst präzise erwiesen. Hier steht irgend etwas von: „To get to Hirbat Rakit you have to turn left on the dirt road“. Soweit so gut. Nach Hirbat Rakit will ich nicht. Oder doch? Liegt dieses Hirbat wie auch immer am Weg? Soll ich dann also auf dem Schotterweg links abbiegen? Oder ist Hirbat Rakit falsch? In diesem Fall möchte mir das Buch vielleicht mitteilen, dass ich den „Linksknick“ ausschließen soll, weil er ja dahin führt, wo ich gar nicht hin möchte. Hm? Ich muss also mein Navi einschalten, auch wenn ich den Handy-Akku eigentlich lieber schonen möchte. Er läuft leider mit dem letzten Rest Strom, denn das gestrige Aufladen hat anscheinend nicht funktioniert. Meine Navigationsapp war mir bis jetzt immer ein weiterer zuverlässiger Partner. Doch die App meint, dass ich an Hirbat Rakit schon längst vorbeigegangen sein muss, ohne es zu bemerken. War Hirbat Rakit vielleicht nur ein Baum? Laut Navi müsste ich mich eher am „Oren Picnic“-Point befinden. Von dort aus ginge es laut Reiseführer geradeaus („climb the black trail“). Das Navi zeigt mir hier aber einen ganz anderen Weg rechts herum. Gut, nicht das Navi zeigt diesen Weg, vielmehr habe ich den aufgezeichneten GPS-Track eines unbekannten Wanderers hochgeladen, der hier eben rechts gegangen ist. Sagt also auch nichts. Auch wenn es sehr selten ist, dass man hier auf Menschen trifft: Vor mir tauchen plötzlich zwei Wanderer auf, die aber wiederum einen ganz anderen Weg scharf links einschlagen. Weil es im Höhenprofil des Reiseführers bergauf geht, entscheide ich mich für den schwarzen Weg geradeaus. Ich beginne erstmals, meinen Herzschlag in den Ohren zu hören. Und ich fühle, dass ich gerade mehr Wasser verschwitze, als ich in den nächsten Stunden werde trinken können. Auch wenn ich in den letzten Tagen viel Essbares geschenkt bekommen habe, geht mir die regelmäßige Kalorienzufuhr plötzlich ab. Auf einen Schlag fühle ich mich kaputt und krieche stellenweise auf allen Vieren nach oben. Beim Aufrichten wird mir schwarz vor den Augen. Ich klammere mich mit meinen Händen an einem Kieferzweig fest. Wenige hundert Höhenmeter machen mich so fertig, wie ich es mir so nicht vorstellen konnte. Mein Puls rast und das erste Mal bekomme ich hier so etwas wie ein irrsinniges Angstgefühl. Ich setze mich auf den Boden, obwohl er nass ist. Dann höre ich viele Stimmen. Kinderstimmen. Es kommt von unten. Sie lachen und reden während des Gehens. Erst im letzten Moment kann ich sie sehen. Sie sausen an mir vorbei, als wenn der Wind sie tragen würde. Abwechselnd grüßen sie mich mit „Schalom“, „Hi“ und „Hello“. Ich gebe mir alle Mühe zu lächeln und mir nichts anmerken zu lassen. Bestimmt sind schon zwölf Kinder an mir vorbei gegangen. Dann kommen zwei Erwachsene nach. Ob es Eltern sind, oder Lehrer? Ich bemühe mich, freundlich „Schalom“ zu sagen und höre den Mann fragen, ob es mir gut gehe. „Yes, okay“, antworte ich, „everything okay“. Schnell ist die Gruppe wieder weg und es ist wieder still geworden. Warum habe ich ihnen nicht gesagt, dass es mir schlecht geht? Immer wieder wird mir schwarz vor den Augen. Ich sehe Sterne. Ich friere, habe fast so etwas wie Schüttelfrost. Meine Zunge klebt fest am Gaumen, ich trinke zu wenig. Nur im Schneckentempo geht es nach oben. Mein Rucksack erschlägt mich fast. Meine Knie sind weich und zittern. Immer wieder falle ich hin vor Erschöpfung. Dabei sollte alles nur ein Katzensprung sein. Beim letzten Sturz habe ich mich böse aufgeschürft. Aber immerhin rüttelt mich das ein wenig wach. Nach einer halben Stunde habe ich es dann geschafft. Ich stehe am höchsten Punkt. Zumindest eröffnet sich mir ein 360-Grad Panorama. Dass ich plötzlich das Mittelmeer unter mir sehe, registriere ich gar nicht wirklich. Ich bin falsch hier. Hier ist kein Ein Hod, kein Dorf, nichts. Hier ist einfach nur ein schöner Platz – und einer, der nicht mehr kann. Einer, der sich völlig überschätzt hat und gedacht hat, er könnte untrainiert Israel durchwandern. Ohne Erfahrung, ohne Geld. Wie naiv! Ist dort unten mein Weg zu Ende? Da unten ist Zivilisation. Eindeutig. Nur, schaffe ich es überhaupt noch bis da unten hin? Ich bleibe nicht einmal stehen, obwohl es sicher einer der schönsten Aussichtspunkte meines Lebens gewesen wäre. Ich gehe nach unten. Vielmehr: Ich torkle nach unten. Nicht dem Weg nach, sondern in der Fall-Linie durch das Gestrüpp. Ob sie mich als einen Geist sehen? Da sind sie, die Kinder und die zwei Erwachsenen. Sie haben sich ein herrliches Plateau ausgewählt, um hier Picknick zu machen. Ich möchte denen nicht begegnen. Nicht jetzt. Nicht so. Daher mache ich einen großen Bogen, falle aber und rolle in zwei, drei Purzelbäumen direkt zu der Gruppe hin. „No problem“, sage ich ihnen völlig abwesend und bemerke gar nicht, dass es mich schon wieder auf mein rechtes Knie gehauen hat. Die „Mama“ kommt auf mich zu und wischt mir erst einmal mein Blut weg. Trotzdem, ich möchte weg hier. Wenn man sich so fühlt wie ich, dann möchte man keinem Menschen begegnen, man möchte flüchten. Nur habe ich meine Rechnung ohne die Kinder gemacht. Die nämlich möchten sich mit dem Ausländer fotografieren lassen. Und sie lachen unentwegt. Da kann man einfach nicht raus. Nach dem Foto möchte ich selbst auch selbst die Gruppe filmen. Vor lauter Erschöpfung stürze ich mit einer Rolle vorwärts. Ich kann nicht mehr gehen und nicht mehr stehen. Ich sitze da und versuche zu lächeln. „Nichts passiert“, sage ich auf deutsch. Die Mama sagt den Kindern auf hebräisch wohl „Gebt dem Mann mal was zum Essen. Der kann nicht mehr. Schnell, schnell. Bringt mir ein paar Müsliriegel.“ Was nun passiert, kann man mit Worten nicht beschreiben. Soll ich Kindern ihre Nahrung wegnehmen? Nein, das geht einfach nicht. Viele Hände strecken mir Müsliriegel und Chips entgegen. Der Kleinste reicht mir einen Plastikbecher mit Tee. „Take“, meint er und sagt dann ganz bestimmt „please“ zu mir. Ein Bettler zu sein auf Zeit – damit konnte ich bis jetzt gut leben. Aber jetzt, was soll ich tun? Ich fühle mich erbärmlich. Kann und darf ich annehmen, was Gott mir hier durch seinen kleinen Geschöpfe schenkt? Ist das noch legitim oder soll ich genau jetzt abbrechen? Aufhören, „Stopp!“ sagen? Ich erzähle weder meine Geschichte, noch wie es mir geht. Aber ich beiße in einen der Müsliriegel. Nur einmal. Ich kaue ganz langsam und spüre die Kraft, die mir zuteil wird. Ich denke an meine Mutter, die als Flüchtlingskind aus Schlesien nach Bayern gekommen ist. Ich habe sie nie verstanden, wenn es sie geschmerzt hatte, wenn wir unsere Teller nicht leer aßen. Ich konnte mir nie vorstellen, wie es ist, Hunger zu haben. Ich hatte nicht die geringste Ahnung, was ihr ein Schokoriegel bedeutet haben könnte, den sie als Kind von einem amerikanischen Soldaten geschenkt bekam. Jetzt fühle ich mich selbst wie dieses kleine Kind. Einen Müsliriegel in der Hand, umgeben von vielen fröhlichen Geschöpfen, die mich eine tiefe Geborgenheit spüren lassen. Gefühle wie diese hat man nicht oft im Leben. Als ich dann langsam meinen Weg ohne Ziel fortsetze, habe ich meinen Riegel noch immer in der Hand. Und ich beginne ganz bitterlich zu weinen. Nein, ich werde nicht aufgeben. Nicht nach all dem Guten, was mir hier und heute in Israel widerfahren ist. Nicht nach all den vielen Menschen, die mir einen guten Weg gewünscht haben. Ich werde gehen, gehen, gehen. Denn ich spüre, dass Gott mich begleitet. Ich fühle, dass er da ist, dass es ihn gibt! Mit kleinen Schritten geht es abwärts. Aus dem Israel Trail wird ein harter Klettersteig ohne Markierung. Schließlich lande ich nach Stunden wieder da, wo ich heute Vormittag schon war: Am Oren Picknick Point. Das Künstlerdorf Ein Hod finde ich nicht. Ich verlaufe mich heute noch ein weiteres Mal. Ich weiß nicht, was Gott mich damit lehren möchte. Jetzt lande ich auf einer Schnellstraße und halte Ausschau nach meinem Israel Trail. Nach einer halben Stunde sehe ich weit entfernt eine Wegmarkierung, aber den Zaun an der Straße kann ich nicht überwinden. Ich weiß, dass der Weg dahinter ist und komme nicht hin. Die Kilometer auf der Straße zermürben mich. Ich will hier weg, möchte meinen Weg wieder finden. „Warum betet er nicht, warum bittet er mich nicht?“, könnte Gott jetzt sagen. „Warum jammert er? Warum sagt er mir nicht einfach, was er will?“ „Er – Gott – muss es doch wissen, was ich will“, könnte ich dem entgegnen. Doch er könnte sich denken: „Du musst es schon selbst wollen. Selbstmitleid gilt nicht.“ Und so kommt es, dass ich mit mir und Gott ein sehr sehr langes Zwiegespräch führe. Kritisch. Undankbar und zerfressen von Selbstmitleid. „Dann hilf mir doch!“, sage ich und füge dann noch schnell ein höfliches „Bitte“ an. Wenngleich der Tonfall insgesamt so höflich gar nicht war. Überhaupt, welcher Tonfall? Habe ich soeben schon wieder laut gesprochen? Ja. Wie auch immer, ich habe Gott nun darum gebeten, mich wieder auf meinen Weg zu führen. Soll er mal machen. Für den Augenblick jedenfalls geht es mir schon besser, denn ein anderer wird sich jetzt meines Problems annehmen und ich brauche nicht mehr verzweifelt sein. Ich kann also für einen Moment einfach einmal geradeaus gehen, ohne nachzudenken. Und was, wenn Gott ein jüdischer Gott ist, oder ein arabischer? Ich muss lachen. Vermutlich wäre es diesem Gott völlig egal, wie wir ihnen nennen. Denn wenn es ihn gibt, dann ist es bestimmt ein weiser Gott, einer, der über den Dingen steht. Also sage ich einfach noch einmal halblaut: „Bitte hilf mir einfach, lieber Gott. Ich wünsche mir meinen Weg zurück. Bitte hilf mir. Bringe mich wieder da hin“. Sage es und ein uralter weißer Pickup rollt ganz langsam vor mir aus. Jetzt blinkt er rechts. Hält er wegen mir? Zum Rennen fehlt mir die Kraft. Ich sehe aber: Er wartet und er kurbelt die rechte Windschutzscheibe herunter. „Brauchst du Wasser? Kann ich dir helfen? Wo möchtest du hin“, fragt mich Semi. Ich stelle mich kurz vor und sage ihm, dass ich den Israel-Trail verloren habe. „Da musst du wieder zurück. Komm, steig ein, ich bringe dich wieder zurück, wenn du möchtest.“ Semi wendet an einer Tankstelle und fährt mich wieder in Richtung Oren Picknick Point. Semi kennt sich aber aus und biegt rechts in einen kleinen Feldweg ein. Vor einem Stacheldraht-Tor steigt er aus, öffnet mir das Tor und sagt mit einer ausladenden Handbewegung: „Voilà, hier ist dein Weg.“ Semi lässt es sich nicht nehmen, mir eine Flasche Wasser zu schenken. Ohne etwas zu trinken wolle er mich auf keinen Fall losgehen lassen. Ich winke ihm noch und dann atme ich ganz tief durch. Was möchte Gott mir noch alles beibringen auf meinem Weg? Für den Augenblick bin ich froh, dass ich einfach nur gehen darf und immer wieder die blau-orange-weißen Markierungen sehe. Von nun an werde ich besser aufpassen. Ich werde üben, die Markierungen zu sehen. Ich werde mich darauf konzentrieren, mir die jeweils letzte Markierung einzuprägen. Mich regelmäßig umzudrehen, um zu sehen, wie der Weg in der Gegenrichtung aussieht. Ich werde mir markante Stellen einprägen und auswendig lernen. Die letzten fünf Wegpunkte müssen sitzen. Ich habe gelernt: In der Wüste darf mir das nicht passieren. Sonst bin ich – tot. Vielleicht war das meine Lektion. Wenn Du als Israelblogger mit 13.000 Euro Gegensatndswert abgemahnt wirst... ... dann hast Du vermutlich alles richtig gemacht! So jedenfalls ist unser Fazit. Angelika Kohlmeier jedenfalls hat unseren Redakteur Christian Seebauer privat mit dieser irrwitzigen Summe abgemahnt. Auch wenn am Ende u.M. nach nichts daraus wird, bleibt Christian womöglich auf seinen Rechtsanwaltskosten voll sitzen. Ausser er würde seinerseits die Abmahnerin Angelika Kohlmeier verklagen. Wie unverschämt Angelika Kohlmeier gegen Blogger vorgeht, kannst Du hier lesen -> Mit einem ideellen Kaffee kannst Du der Redaktion Mut zusprechen! Ein Hod habe ich heute nicht gesehen. Aber das kann ich eines Tages als Tourist sicher nachholen. Und Nahal Me’arot, mein Tagesziel, habe ich irgendwie auch nicht gefunden. Passt zum heutigen Tag. Dafür wandere ich wieder in traumhafter grüner Natur und: Ich habe per Telefon einen Trail Angel gefunden, besser gesagt, eine Trail Angelin. Bei Noa darf ich heute im Garten mein Zelt aufstellen. Ich staune nicht schlecht, als ich Noa kennen lerne. Wir treffen uns auf einer schmalen Straße, die der Israel Trail nahe Kerem Maharal überquert. Noa braust im letzten Licht mit einem kleinen Wägelchen vor, der Sitz ist ganz nach hinten gerückt, denn Noa ist hochschwanger. Der Geburtstermin wäre heute! Und ihr Freund kommt frühestens morgen zurück. Trotzdem hat Noa am Telefon Ja gesagt und gibt mir eine Unterkunft. Im kleinen Garten finde ich einen schönen Platz für mein Zelt. Mittlerweile regnet es leicht. Noa lässt mich zum Duschen ins Haus und dann kommt die Überraschung: Noa kocht mir Nudeln mit Tomatensoße, frischen Zwiebeln und frischer Petersilie. Zum Reden bleibt keine Zeit. Beide sind wir hundemüde und so verzieht sich jeder sofort nach dem Essen zum Schlafen. Die Nacht verläuft dann recht ruhig. Nachwuchs kommt eben nicht nach Termin, sondern wann er oder sie es will. Verbrannte Erde und Hoffnung In der Asche der Waldbrände von Kerem Maharal nach Jisr a-Zarka Etwa 30 Kilometer, ca. 580 Höhenmeter Gesamtanstieg. Trinkwasserverbrauch 5 Liter. Heute bringt mich der Israel Trail zum Foresters House im Karmel Wald und weiter bis an das Mittelmeer. Doch zuerst werde ich heute erfahren, wie klein ein Mensch ist und wie groß Visionen sein müssen, um immer wieder von vorne anzufangen. Es geht um den Wald. Um den Wald im Karmel Gebirge, um genau zu sein. Hier fanden 2010 Waldbrände von schier unvorstellbarem Ausmaß statt. Bei diesem „Carmel Disaster“ wurden 17 000 Menschen evakuiert, mindestens 44 fanden den Tod und 1,5 Millionen Bäume gingen verloren. Von Isfiya bis zum Mittelmeer sind hier 15 000 Hektar komplett verbrannt. Wer sich als Tourist entsprechende Denkmäler auf einer Busreise ansieht, kann sich als Mensch diese Dimensionen wohl niemals annähernd vorstellen. Was sind 15 000 Hektar? Oder anders gesagt: Was sind 150 Millionen Quadratmeter? Man muss es wohl mit seinen eigenen Füßen durchwandern, um eine solche Fläche begreifen zu können, denke ich mir. Zwei Tage bin ich schon seit Isfiya unterwegs. Heute ist der dritte Tag, an dem ich die Carmel Mountains mit ihren Wäldern durchstreife. Oder sagen wir so: Ich durchstreife das, was noch übrig ist oder was schon wieder da ist. Schon seit Isfiya begleiten mich kahle Flächen. Ich sehe Reste der Waldbrände. Ich sehe Wiederaufforstung. Aber die letzten beiden Tage hatte ich Glück, denn der Israel Trail folgt hier weitgehend den Tälern, die von Feuer teilweise verschont blieben. Heute fühle ich mich wie ein kleines Sandkorn in einer großen niedergebrannten Fläche. Dieses riesige Gebiet zu Fuß zu durchwandern, beschert mir eine Gänsehaut. Auch heute noch, Jahre später, rieche ich die Asche in der Luft. Ganze Hügelketten bis hin zum fernen Mittelmeer sind praktisch bar jeglicher Vegetation. Das eigentlich Schlimme aber ist, dass hier in Israel nichts von ganz alleine wächst. Es ist nicht so wie bei uns in Deutschland, dass man eine solche Fläche einfach ein paar Jahre sich selbst überlassen könnte, bevor es wieder grünt. Wer hier als Lebenswerk Bäume gepflanzt hat und sie im Feuer verloren hat, der muss seine Seele verloren haben. Hier in langsamem Tempo durchzuwandern, zerreißt mir das Herz! Mag sein, dass man als interessierter Tourist auch einen Eindruck davon bekommt, aber hier allein zu sein ist schlimm. Für einen Augenblick beschließe ich, dass ich die Erde spüren möchte. Ich will Verbindung zu ihr aufnehmen, fühlen, was da ist. Ich ziehe meine Schuhe aus und setze einen Fuß vor den anderen. Ich spüre Dornen, Kiesel und ausgemergelte, rostbraune Erde. Ich kann den Verlust fühlen, als wäre es gestern passiert. Alte verkohlte Wurzelstränge riechen noch immer im Vorbeigehen, als würden sie schwelen. In der Ferne bietet auch der Himmel ein merkwürdig trostloses Bild. Zwischen dem wenigen Blau und den Wolkenbändern liegt eine schmutziggelbe Luftschicht, so wie ein giftiges Schwefelband, das gerade einem Vulkan entstiegen ist. Kein Smog. Nur Sand aus der Sahara. Und Gott sprach: Es lasse die Erde aufgehen Gras und Kraut, das Samen bringe, und fruchtbare Bäume auf Erden, die ein jeder nach seiner Art Früchte tragen, in denen ihr Same ist. Und es geschah so. (1.Mose 1,11; L) Gerade komme ich über eine kleine Kuppe. Tausende und Abertausende von Holzstöcken ragen hier aus der Erde. Das kenne ich schon, nur nicht in solch gigantischem Ausmaß. Die Leute von KKL pflanzen hier einen ganzen Horizont neuer Wälder. Kann so etwas Gigantisches gelingen? „Ja“, scheint die kleine violette Blume neben meinem rechten Fuß zu sagen! Und tatsächlich: Da blüht etwas. Unweigerlich bücke ich mich zu ihr hinunter und berühre sie. Eine tapfere Vorreiterin, denke ich mir. Eine Pionierin! Dann hebe ich langsam meinen Blick und entdecke, dass auch die kleinen Bäumchen an den Holzstöcken ausgrünen. Wow! Hier gibt keiner auf. Großartig. Immer wieder stoße ich jetzt auf ein paar alte Bäume, die wie ein Wunder dem Feuer getrotzt haben. Sie geben den jungen Schatten und halten mit ihren Wurzeln die Erde fest. „Seht her, hier dürft ihr groß werden.“ Weil es ziemlich pikst, ziehe ich meine Schuhe wieder an und laufe weiter bergab. Im Forsters House treffe ich zwei Förster von KKL, die mir einen Kaffee anbieten, israelischen Kaffee! Der ist nicht vergleichbar mit unserem deutschen Wässerchen. Deutsche Spender haben hier anscheinend viel bewegt. Sogar kleine Unterkünfte für Pilger entstehen hier. Aber immer geht es um die Liebe zur Natur, um den Wald, die Tiere und die Menschen, die hier zu Gast sein dürfen. Nach meinem kurzen Besuch im Foresters House wandere ich zu den Denkmälern, die hier für Spender in einem kreisförmigen Areal errichtet wurden. Da stehen viele, die sich für die Wiederaufforstung engagiert haben. Menschen und Vereine aus allen Ländern der Welt. Doch dann staune ich: Neben ganz normalen Tafeln stehen hier zwei, die ich so ganz und gar nicht erwartet hätte: Intel und Google. Rüttelt diese Tafel hier gerade an meinem Weltbild? Zugegeben, bis jetzt halte ich nicht wirklich viel von Google & Co. Klar, ich benutze es täglich. Aber sympathisch ist mir Google nicht. Da ist einfach zu viel Unbehagen dabei. Ganz grundsätzlich stehe ich mittlerweile, was Großkonzerne betrifft, eher auf einem recht radikalen Standpunkt: Wir brauchen sie nicht. Sie tragen keine soziale Verantwortung mehr. Sie sind gegen uns. Und hier eine gute Tat von Google? Finde ich gut. Ganz ohne jede Polemik. Hätte ich so nicht gedacht. Helfen im Stillen, ohne großes Trara, ohne einen werbewirksamen Selbstzweck. So eine kleine Steinsäule finde ich da angemessen, nicht aufdringlich, nicht selbstherrlich. Hier reihen sich Google und Intel ein unter all die anderen, ganz normalen Spender, deren Namen ich noch nie gehört habe, denen ich jedoch meinen vollen Respekt zolle. Es interessiert mich ja auch gar nicht, wer hier wie viel gegeben hat. Helfen ist kein Wettbewerb. Wer hier auch nur 20 Euro dem KKL gegeben hat, gibt dem großen Ganzen eine echte Chance. Leider habe ich nichts dabei, um heute etwas zu geben. Gerne hätte ich es getan. Aber hier sitze ich gerade und denke nach. Ich muss weiter. Die beiden Förster winken mir noch nach und rufen etwas auf Hebräisch hinterher. Bestimmt so etwas wie „viel Glück“ oder „alles Gute“. Ich habe es schon öfter gehört und es kommt mir vor wie Schulterklopfen. Noch einmal gehe ich zurück in den Wald, folge den Markierungen und überwinde einige Höhenmeter. Gleich hinter dem Foresters House muss ich meine Hände benutzen. Der Trail folgt einem fast trockenen Bachlauf bergauf. Idyllisch ist es hier und stockfinster. Mit meinem Fotoapparat muss ich lange belichten. Es ist schon Nachmittag. Wo soll ich bleiben? Wohin soll ich gehen? Heute möchte ich noch bis an die Küste wandern, Salzwasser riechen! Nicht ganz einfach, denn meine Glieder sind schon ziemlich müde und ich befinde mich, nach dem Reiseführer zu schließen, schon wieder zwischen den vorgesehenen Etappen. Wenn ich alles samt Umwegen zusammenzähle, komme ich heute wohl auf knappe 40 Kilometer und fast 1 000 Höhenmeter, wenn ich das Meer erreiche. Von einer alten Dame bekomme ich zwei Äpfel geschenkt, die mich klein, sehr klein, machen. Und eine Gruppe junger Leute gibt mir Wasser. Die Mädels sehen aus, wie aus dem Flower-Power entsprungen. Ob sie was geraucht haben? Ich weiß es nicht. Spontan umarmen sie mich alle gleichzeitig und beginnen mit mir zu tanzen. Heute beginnt im Gehen so eine Art Rauschzustand für mich. Rausch trifft es nicht wirklich. Vielleicht ist Trance das bessere Wort. Allein heute bin ich so weit gekommen, habe so viel gesehen, alles zu Fuß, dass mein Gehirn es offenbar gar nicht mehr verarbeiten kann. Glücksgefühle durchströmen gerade meinen gesamten Körper. Ich fühle mich leicht wie ein Schmetterling und spüre unglaubliche Kräfte, die mich weiter und weiter tragen. Es geht an einer byzantinischen Quelle vorbei. Verlaufen, wieder zurück, wieder an den Mädels vorbei. „Hello, hi, good luck!“ Weiter geht es auf engen Fußpfaden über Lehm. Ich rieche es: Das Meer ist nicht mehr weit. Serpentine über Serpentine führt mich durch einen endlosen Dschungel in unglaublicher Landschaft. Noch eine Kurve, noch eine und dann – stehe ich hoch oben über der Mittelmeerküste. Tiefes Blau breitet sich vor meinen Augen aus. Zwei Wochen Fußmarsch haben mich an diesen Aussichtspunkt gebracht. Es ist schon kühl, später Nachmittag, leicht bewölkt. Hier möchte ich Pause machen, ein wenig essen. Ich spüre einen tiefen Frieden in mir. Egal, was immer auch passiert, heute bin ich nicht mehr in Eile. Leider ist mein Handy-Akku leer, sonst würde ich jetzt meine Familie anrufen. Dasitzen und auf einem Stück Pitabrot herumknabbern tut gut. Ich habe es noch von Isfiya, von der arabischen Familie. Und ich habe noch das Lächeln vor meinen Augen, mit denen sie mir das Brot geschenkt haben. Nicht einfach so, sie haben mich an beiden Armen genommen und Glück gewünscht. Jetzt ist dieser glückliche Moment da, wo das kleine Brot für mich noch einmal eine ganz besondere Bedeutung gewinnt. Auch die ältere Dame, die mir die Äpfel geschenkt hat, werde ich in meinem Leben niemals mehr vergessen. Sie hat sich, weil sie auf meiner Hose unterschreiben wollte, vor mich hingekniet. Wie weit ich hier in Israel kommen mag? Ich bin schon angekommen. Mehr kann man gar nicht sehen, nicht fühlen und nicht erleben. Langsam nähern sich aus der Ferne zwei junge Urlauber, die hier mit Schlappen den Berg zu mir heraufkommen. Beide sind sie so zwischen 18 und 20, dem Akzent nach Russen. Beide sind total erschöpft und fragen mich, wie weit es noch zur byzantinischen Quelle sei. Ich frage sie jedoch erst einmal, so wie alle anderen es mit mir gemacht haben: „Braucht ihr Wasser?“ Und beide setzen sich sofort hin und sagen: „Ja, bitte.“ Bald gehe ich wieder allein. Es war ein gutes Gefühl, helfen zu dürfen. Mein rechter Fuß macht mir Probleme. Er schmerzt extrem und ich beginne zu humpeln. Vom Meer her weht mir ein angenehm warmer Wind entgegen. Unter mir sehe ich grüne Felder, Wiesen, Landwirtschaft. Der Weg selbst führt mich auf einem scharfkantigen und felsigen Hochplateau parallel zur Küste. Der Ausblick ist einzigartig und sensationell. Nach dem Abstieg geht es über die Schienen und an einem mit Schilf gesäumten Bachlauf zur Küste. Was mit dem Auto in wenigen Minuten zu bewerkstelligen wäre, fordert meine letzte Kraft und viel Zeit. Erst als es schon fast dunkel ist, erreiche ich den Strand. Es ist ein unwirkliches Bild, was sich mir als Wanderer hier bietet. Frisches Meerwasser rauscht über meine nackten Füße. Links und rechts ist der Strand kilometerweit völlig unverbaut. Neben mir befinden sich ein paar kleine Hütten. In einigem Abstand sehe ich ein paar Fischer und spielende Kinder, die von mir keine Notiz nehmen. Einen der Männer spreche ich dann doch an und frage, ob ich hier neben den Hütten übernachten darf. Er meint, dass es oben im Dorf eine Herberge gäbe, die er mir unbedingt persönlich empfehlen möchte. Ich gehe also einen knappen Kilometer zurück nach Jisr a-Zarka. Darf man Vorurteile haben? Vorurteile sind manchmal nur eine Bezeichnung für das, was man auch als Bauchgefühl bezeichnen könnte. Und mein Bauchgefühl wird gerade mit jedem Meter hinein in dieses Dorf schlechter. Ich komme mir hier sehr fremd vor. Oder anders herum, die Menschen kommen mir hier sehr fremd vor. In Israel trifft man ja fast überall auf Europäer. Menschen, die auch so aussehen wie du und ich. Menschen, deren Mimik und Gestik sofort vertraut ist. Und es sind stille Menschen. Vornehm. Nicht aufdringlich. In Jisr a-Zarka bekomme ich ein total beklemmendes Gefühl. Das sind gar nicht die Menschen, die ich bisher gesehen habe. Hier fahren halbstarke Araber in getunten Autos herum. Sie sehen aus wie in der Bronx, machen einen auf bösen Rapper. Von tausend Augen werde ich beäugt. Werden sie mich überfallen? Mich berauben? Bei diesem Gedanken muss ich lachen, denn außer dem Foto meiner Familie habe ich nichts bei mir, was mir wirklich etwas bedeuten würde. Schließlich komme ich gut an und stehe mitten an der Hauptkreuzung des kleinen Dörfchens vor Juha’s Guesthouse. Am Empfang sieht es sehr nett aus. Ahmad empfängt mich sehr höflich. Doch ich habe ja kein Geld. Um mir jegliche Zeit zu sparen unterbreche ich Ahmad’s begeisterte Präsentation über sein Guesthouse mit einem knappen „Sorry, I have no money“. „No money...?“ hallt es nun aus den Lippen Ahmads und zeitgleich verstummen gut zehn junge arabische Burschen. Noch einmal lässt Ahmad sich „Noooo money“ auf den Lippen zergehen und dann fängt er lauthals an loszulachen. „Hey man, I can give you reduce – but no money?“ Ahmad kennt es wohl nur zu gut, dass Pilger auch mal handeln möchten. Und Handeln entspricht ja durchaus der arabischen Mentalität. Aber dass hier einer von vornherein ein „Njet“ in die Runde wirft, findet er irgendwie frech und witzig. Schon höre ich von den Hinterbänken „Hey Ahmad, ich hab grad kein Geld, machst mir du Tee?“ Jetzt lachen wirklich alle. Ahmad möchte die Situation galant aus der Welt schaffen und meint zuvorkommend: „Kein Problem, wie nehmen auch Kreditkarten. Du kannst morgen bezahlen.“ Irgendwie scheint mir Gott gerade die richtige Eingebung zu geben. Er lässt mich sagen: „Danke Ahmad. Ich möchte dich um ein Glas Wasser bitten. Ich trinke es draußen, bevor ich gehe.“ Dann frage ich ihn, warum hier lauter Araber sind und ich frage auch, ob sein Guesthouse neu ist. Ohne eine Antwort abzuwarten, bedanke ich mich noch einmal, drehe mich um und gehe. Aber ich habe die Rechnung ohne Ahmad gemacht. Von hinten zieht er meine Schulter zurück und sagt: „Weil Jisr a-Zarka ein arabisches Dorf ist.“ Ahmad deutet auf einen von den Jungen besetzte Stuhl und sagt zu mir: „Setz dich, bitte.“ Wie auf Geheiß stehen die vier jungen Burschen auf und überlassen uns den Tisch. „... und weil wir etwas tun müssen hier“, fährt Ahmad fort. „Etwas tun gegen die Vorurteile. Und etwas tun für die jungen Leute hier. Jisr a-Zarka heißt übersetzt: Die Brücke über den blauen Fluss. Sie soll uns in eine gute Zukunft führen. Und die müssen wir nun endlich in die Hand nehmen.“ „Warum bist du zurückgekommen?“ fragt Ahmad mich. Er hat es also mitbekommen, dass ich vom Strand zurückgekehrt bin. „Ich hatte ein wenig Angst“, sage ich ihm. „Ja“, meint er, „So geht es vielen. Jisr a-Zarka war die Stadt mit der höchsten Kriminalitätsrate in Israel.“ „War!“ betont er noch einmal. „Wir wollen das ändern. Und wir haben schon viel geändert.“ Ahmad erzählt mir, dass noch nie einem Touristen hier etwas passiert sei. Ganz im Gegenteil sei es so, dass wirklich jeder auf der Straße von der Zukunft träume, von einer besseren Zukunft eben. Noch einmal fragt Ahmad mich irgendetwas, doch ich komme auf meine Frage zurück. Juha’s Guesthouse ist eines von vielen Projekten, die den Menschen hier eine Zukunft geben sollen. Sie soll Urlauber hierher bringen. Ahmad schwärmt von Bildung. Es sei der Schlüssel für den Frieden. Dann sind wir plötzlich beim Koran, bei der Bibel. Bei „guten“ und „bösen“ Palästinensern, bei vertanen Chancen, bei Träumen und Visionen und – bei einer Tasse Tee. Wie lange ich bleiben wolle, fragt mich Ahmad. „Bis morgen“ antworte ich ihm brav, weil ich das Gefühl habe, sein Gast zu sein. Ich teile mir den Schlafbereich – schön getrennt – mit einer finnischen Studentin, die hier in Jisr a-Zarka wie viele andere Studenten Projektarbeit macht. Ehrenamtlich! Einer der jungen Burschen kommt plötzlich an unseren Tisch und überreicht mir mein gelbes Handy. „War draußen auf der Mauer“, meint er. Dort hatte ich ein Selfie geknipst und mit der Kamera Aufnahmen gemacht – und mein Handy liegen gelassen. Dass der junge Mann mir mein Handy brachte, entsprach auch nicht meinen Vorurteilen. Ahmad lädt mich heute Abend noch zu seiner Familie zum Abendessen ein. Im Kreise seiner kleinen Kinder und seiner Frau bekomme ich Suppe, Hirse und Tee. Und Brot für morgen und: Einblick in das Leben hier. Wieder muss ich erfahren, dass nichts hier so ist, wie uns Medien das reduziert weißmachen wollen. Ahmads Frau ist muslimisch und durchaus emanzipiert. Ahmad behandelt sie mit großem Respekt und liebevoll. Über Israel reden sie ganz anders, als man denken mag. Ahmad liebt Israel. Es ist seine Heimat. Er hat Visionen und Ziele. Eine gute Ausbildung für seine Töchter zum Beispiel. Und er sagt, dass man für sein Land auch etwas tun müsse, etwas geben, wenn man kann. Man dürfe es sich nicht zu leicht machen. Nicht immer nur die Schuld bei anderen sehen. „Hast du die vielen Wälder gesehen“ fragt Ahmad mich. „Ja“ antworte ich ihm und Ahmad meint „So etwas haben ‚die’ nicht“. Ahmad sagt „die“, womit er wohl „die“ Palästinenser oder „die“ Araber meint. „Wir alle müssen lernen, dass wir die Welt gut machen. Grün muss sie sein. In den Meeren müssen Fische schwimmen. Das geht uns alle an. Auf dem Boden muss Wald wachsen. Und wir müssen aufhören, den Wald anzuzünden. Ja, wir müssen noch viel lernen.“ Ahmads Frau ist gerade aufgestanden und geht in die Küche. Ahmad schweigt. Ich denke, dass ich nicht einmal ansatzweise erahnen kann, was Ahmad mir da gerade sagen wollte oder will. Ich schweige auch. Ahmad und ich haben uns bis tief in die Nacht unterhalten. Was ich höre, ist Liebe und Hoffnung. Was ich nicht höre, sind Verbitterung oder radikale Positionen. Ich gehe zurück zu Juha’s Guesthouse und plötzlich erscheinen mir die „dunklen Gassen“ gar nicht mehr so dunkel. Hier tut mir niemand etwas. Ich schlafe diese Nacht tief und gut und träume davon, dass sich die Menschen hier alle umarmen. Als Penner am Poleg Beach Strandlauf von Jisr a-Zarka nach Poleg Beach (Netanja). Etwa 38 Kilometer, ca. 280 Höhenmeter Gesamtanstieg. Trinkwasserverbrauch 7 Liter. 35 Grad Lufttemperatur. Wow, was für ein schöner Tag! Im ersten Morgenlicht verlasse ich „Brücke über den blauen Fluss“. Für mich war es die Brücke in eine andere Welt. Und doch gehe ich heute ganz anders durch die Straßen hier. Mich auf Fremdes einzulassen, war es wert. Heute erscheinen mir die finsteren Blicke von gestern alle fröhlich. Ein kleiner Junge äugt hinter einem Zaun hervor. Als er sieht, dass ich ihn entdeckt habe, winkt er mir zu. Auch Erwachsene winken mir, was ich so eher nicht kenne. Auf dem Weg heraus höre ich immer wieder „Welcome“. Und die Rapper von gestern erscheinen mir heute Morgen eher als Jugendliche, aus denen noch etwas werden kann. Ein paar von Ihnen hupen mich an und grüßen. Es ist ein schöner Abschied. Nach nur einem Kilometer erreiche ich wieder den Strandabschnitt, an dem ich gestern schon war. Ich kann es kaum glauben, dass der Israel Trail hier einfach völlig wild über den herrlichen Sandstrand verläuft. Die kleinen Holzboote in Fishermen’s Village liegen noch ganz ruhig auf dem spiegelglatten Wasser. Der Fischer von gestern ist wieder hier. Auch er winkt mir zu und deutet mit seinem Arm nach links: „Da geht’s weiter.“ Vor mir liegt ein weiter, völlig unverbauter Strand. Idyllisch. Das Hinterland säumt eine hohe Düne. Sandig, aber auch grün. Am Strand laufen weit entfernt einige Menschen umher. Manche lassen ihre Hunde laufen, andere joggen hier das Ufer entlang. Fröhlich geht es hier zu, und ganz gemischt. Trotzdem ist es sehr überschaubar und besinnlich. So wie irgendwo anders außerhalb der Saison, wo sich nur ganz wenige an den Strand verirren. Schon lange habe ich mich auf diese Strecke an der Meeresküste gefreut. Nach den gebirgigen letzten Etappen in Israels Norden endlich einmal flach. Andererseits habe ich mir zu Hause eine dicht besiedelte Küste vorgestellt, an der man tagelang auf geteerten Strandpromenaden wandern muss. Weit gefehlt! Ohne jetzt Länder zu nennen, wo ich schon am Strand laufen wollte, überrascht mich Israel hier absolut positiv. In vielen Ländern der Welt ist es ja noch nicht einmal möglich, überhaupt am Strand zu wandern, weil überall irgendwelche Clubs einzäunen, was nur geht. Oder man wird auf Schritt und Tritt belästigt. Oder alles ist zugebaut, Hotel an Hotel. Nun, das kann ja noch kommen. Aber fürs Erste genieße ich diese riesengroße Freiheit, die ich hier verspüre. Nur in einem Punkt habe ich mich getäuscht: Dass es leicht sein würde, am flachen Strand zu laufen. Heute habe ich bisher fünf Kilometer zurückgelegt. Vielleicht sind es auch sieben oder acht. Und es ist sehr, sehr anstrengend. Meine Füße sinken hier mit jedem Schritt ein. Mein Rucksack bäumt sich auf zur Überlast. Und schlagartig schnellt die Temperatur in die Höhe und zeigt mir, wo ich bin: In Israel! Ich wünsche mir sofort die kühlen Wälder und Berge zurück. Hier am Strand leide ich mit jedem Meter. Andererseits ist die Kulisse vor mir so unwirklich schön, dass es mir die Sprache verschlägt. Ich führe auch gerade keine Selbstgespräche! Hier her werde ich mit meiner Familie in den Urlaub fahren. Genau hierher! Wie könnten meine Kinder hier im Sand spielen und frei herumtoben! Hier muss niemand sein Claim abstecken. Oder mit einem Handtuch etwas reservieren. Nein, hier ist die Traumküste einfach so da. Für jedermann. Körperlich ist es für mich gerade recht anstrengend. Ich bekomme einen kleinen Hinweis, was Hitze und Sand bedeuten können. Es ist ein Hinweis mit dem Vorschlaghammer. Gerade kommt mir eine junge Joggerin mit hochgesteckten blonden Haaren entgegen. Sie hat Stöpsel im Ohr und trägt ihr Handy als Bordcomputer am Arm. Egal, ob ich sie störe. Ich halte sie an und frage sie, ob sie ein Foto von mir machen kann. Sie lacht und wischt sich erst einmal den Schweiß von der Stirn. Klar macht sie ein Foto von mir und verschwindet dann ebenso schnell in der Ferne des Strandes wieder. Zu Hause hätte sie mir wohl den Atem verschlagen und den Kopf verdreht. Bestimmt hätte ich es mit irgendeinem blöden Spruch versucht. Und ebenso sicher hätte ich mich garantiert lächerlich gemacht als hormongesteuerter Papagallo, wäre abgeblitzt oder im schlimmsten Fall gar nicht erst beachtet worden. Die, die da gerade vor mir stand, könnte definitiv in jedem Film mitspielen oder von jedem Prospekt herunter lächeln. Und sie hat mich angelächelt. Für einen kurzen Augenblick hat sie mich elektrisiert. Nur eben, dass ich ihr hier nicht als „Mann“ begegnet bin. Das Wandern macht den großen Unterschied. „Mann“ ist von einer anderen Welt. „Mann“ ist reduziert auf das Gehen, auf Trinken, Schlafen und Essen. In genau dieser Reihenfolge. Und „Mann“ ist erschöpft. So erschöpft, dass „Mann“ sich endlich auch nach außen hin aufgeben darf. „Mann“ muss nicht mehr irgendeine blöde Rolle spielen. „Mann“ muss sich nicht mehr wie ein bunter Papagei präsentieren, nicht mehr unter Strom stehen und den anderen die perfekte Show abliefern. Nein: Hier muss man gar nichts liefern. Hier ist „Mann“ zur Ruhe gekommen. Und genau das spüren wohl andere auch. Es ist schön, keine Mauer mehr um sich zu haben. Es ist wunderbar, ein Lächeln zu schenken, anstatt blöde Phrasen zu labern. Und es ist so wertvoll, ein solches zurückzubekommen. Nicht als Idiot mit der Rolex am Handgelenk. Auch nicht als Trottel, der seinen Arm lässig aus dem Autofenster hängen lässt. Nein, ein Lächeln für dich als Penner. Ein Lächeln für dich als Clochard, als Bettler. Ein Lächeln für dich als letztes Glied in der Kette. Für dich, als Person, die keinerlei Macht und keinerlei Status mehr hat. Nein, Selbstgespräche habe ich heute noch nicht geführt. Aber ich drehe mich gerade mit weit ausgebreiteten Armen um meine eigene Achse. Kein Tango, kein geordneter Tanzschritt. Aber ja, es ist ein Freudentanz, weil ich mein Leben wieder als ganz echt, als völlig unverfälscht wahrnehme. Gott, ich danke dir. Ich fühle wieder. Ich bin glücklich mit mir selbst. Glücklich, so glücklich wie ein kleines Kind. Irgendwann stoße ich dann auf eine große Gruppe israelischer Wanderer, die gerade in einer einsamen Bucht Brotzeit machen. Bestimmt sind es hundert, vielleicht sogar zweihundert Leute. Und sie sind ganz gemischt. Kinder sind dabei, sehr viele Jugendliche, aber auch Alte, ganz alte. Das Geschehen ist bunt. Je näher ich komme, um so lauter, umso fröhlicher wird es. Dann schallt es mir entgegen „Shvil Israel?“. „Yes“ rufe ich fröhlich zurück. Aus der Masse kommt einer auf mich zu, der viel ruhiger und gelassener ist als die anderen. Es ist Denny, der Tourguide. Denny erklärt mir, dass sich hier mehrere Gruppen zur Brotzeit treffen und dann als verschiedene Gruppen wieder weiter gehen. Drei Tage werden sie unterwegs sein. Gepäck wird gefahren. Für Verpflegung wird gesorgt. Gehen müssen sie aber alle selbst, sagt er und lacht laut. Denny reicht mir sein Sandwich, in das er gerade selbst rein gebissen hat. „Nimm!“ meint er. „Magst du Thunfisch?“ Und wie ich Thunfisch mag. Ein paar Kalorien kann ich dringend gebrauchen. Und so einen Wanderausflug für ein paar Tage zusammen mit anderen könnte ich mir auch vorstellen. Bestimmt eine schöne Sache. Gut gestärkt gehe ich weiter im Sand. Ich genieße das Alleinsein. Und ich genieße die Weite, die sich da vor mir auftut. Am Nachmittag erreiche ich dann den Küstenstreifen von Netanja. Im Flirren der heißen Luft tauchen Hochhäuser auf. Netanja hat knapp 180 000 Einwohner und liegt zwischen Hadera und Tel Aviv. Das Klima ist subtropisch. Trotzdem kann ich weiter am Strand laufen. Auch hier in Netanja sind die Strände frei und weitläufig. Es ist heiß geworden. Langsam neigt sich mein Wasservorrat dem Ende zu. Sieben Liter habe ich bis jetzt schon getrunken. Mein persönlicher Rekord, würde ich sagen. Trotz alledem war ich nur ein einziges Mal Wasser lassen. So wie am Miami Beach stehen hier Holztürme der Rettungsschwimmer. Und gleich den ersten nehme ich mir vor. Ich steige hinauf und klopfe an. Jethro öffnet mir die klapprige Holztüre, mustert mich und meint „Israel Trail?“ Jethro fragt mich sofort, was er für mich tun könne, woher ich käme und ob ich baden möchte. Ich frage Jethro nach Wasser. Er lacht und witzelt „Salzwasser? Oder echtes Wasser zum Trinken?“ Jethro begleitet mich von seinem Holzturm herunter und führt mich gut 50 Meter hin zu einem kleinen Wasserhahn, an dem man sich die Füße abspülen kann. Als ob er meine Frage geahnt hat, entreißt er mir meine erste Trinkflasche, befüllt sie kurz und trinkt dann selbst daraus. „Du kannst es trinken. Du kannst das Wasser in Israel überall trinken. Du brauchst keine Chlortabletten!“ Jethro labert nicht nur so dahin. Er macht es mir einfach vor. Ganz so, wie man einem kleinen Kind irgendetwas vormacht, damit man es auch macht. Ich muss grinsen, bin aber echt beeindruckt. Zusammen mit ihm trinke ich abwechselnd meine erste Flasche leer. Jethro verabschiedet sich rasch von mir, weil er wieder auf seinen Posten muss. Ich fülle alle Wasserflaschen wieder auf und mache meinen Rucksack somit zehn Kilogramm schwerer. Schon nach fünf Minuten weiß ich: Das schaffe ich nicht, in der Wüste aber muss ich es schaffen. Hier bin ich noch nicht soweit. Und ich bin auch noch nicht soweit von der Zivilisation entfernt, dass ich heute Nachmittag noch zehn Liter Wasser benötigen würde. Daher nehme ich meinen Rucksack wieder ab und leere einige Flaschen aus. Dabei habe ich ein unglaublich schlechtes Gewissen, weil ich gerade von einer älteren Frau beobachtet werde, die ihren Kopf schüttelt. Was Wasser hier in Israel bedeutet, werde ich erst später erfahren. Am Spätnachmittag erreiche ich Poleg Beach. Der Strand ist bekannt für seine Schönheit und für die Kitesurfer, die hier akrobatische Kunststücke vollführen. Ich muss erst einmal stehen bleiben und an meinem Fuß die erste Blase auf meiner Reise verarzten. Dann geht es von einer Anhöhe abwärts zum Poleg Beach. Ein wenig erinnert mich die Kulisse an den Varadero Beach in Kuba. Weißer Sand, Dünen und karibisches Flair. In einem kleinen Strandrestaurant frage ich, ob ich etwas Wasser bekommen kann und ob ich hier windgeschützt mein kleines Zelt aufschlagen darf. Die nette Kellnerin nickt und nimmt meine leere Plastikflasche entgegen. Was nun folgt, ist exakt die Szene, die ich aus dem Allacher Sportgeschäft schon kenne. In der Theorie, als Déjà-vu-Erlebnis, sozusagen. Sogar die beiden Chefs scheinen äußerlich wie innerlich exakt identisch zu sein. Das Blut stockt mir in den Adern. Schlagartig fühle ich mich unwohl. Wie in Zeitlupe spielt sich alles ab. Wie in einem schlechten Film. Der Chef dreht sich mit einem verächtlichen Blick kurz zu mir, dann zur Kellnerin mit der Wasserflasche in der Hand. Er packt sie brutal an der Hand, zeigt mit der anderen auf mich. Die Plastikflasche fällt zu Boden. „Raus hier, verschwinde“, scheint er auf hebräisch zu sagen. Ich verstehe es ganz genau. Jedes Wort. Und in schlechtem Englisch ruft er mir nach: „Kein Wasser hier! Kein Zelt! Verpiss dich!“. Sofort gehe ich, lasse die Plastikflasche zurück. Doch dann folgt mir einer der Gäste. Er bringt mir meine leere Flasche. Er ist Russe. Und mit starkem russischen Akzent sagt er zu mir: „Auch Russe, aber Arschloch. Ist Geld in Kopf gestiegen, ist Schande. Wir nicht so!“ Dimitri, so heißt er, sagt mir, dass ich hier – einige hundert Meter weiter – warten soll. Dann kommt er zurück, mit seiner Frau oder Freundin, einer Flasche Wodka und drei Gläsern. Mit Dimitri und Lena sitze ich nun hier am Strand. Was uns verbindet, ist fürs erste nur der Alkohol. Dimitri ist wohl einer der Superreichen. Er lebt in einer völlig anderen Welt. Dennoch scheint er so etwas wie ein ausgeprägtes Gerechtigkeitsgefühl zu haben. Oder Mitleid. Ich weiß es nicht. Dimitri erzählt mir jedenfalls, dass er früher nichts hatte. So wie ich, merkt er an. Ausgelacht worden sei er, überall abgewiesen worden sei er mit seinen Ideen. Dann lacht er selbst, mit seiner rauen Stimme. „Heute bin ich der, der lacht. Na zdoróv’je!“ Eine Einladung zu Dimitri nach Hause lehne ich ab. Ich möchte hier in meinem Zelt schlafen. Auf die Frage, ob ich hier mein Zelt aufstellen kann, meint Dimitri „Israel sicheres Land. Gutes Land.“ Dann sagt er: „Wenn dir was tut, morgen tot.“ Dimitri lacht schallend. Er hat einen schwarzen Humor, oder eben eine Macht, die in meiner doch recht beschaulichen Welt gar nicht vorstellbar ist. Gut, dass Dimitri sich selbst zehnmal so oft nachschenkt, wie mir. Und so gehe ich kurz vor Sonnenuntergang beschwipst, aber nicht betrunken, weiter am Strand. Kitesurfer haben mir noch ein paar getrocknete Bananen geschenkt. Mein Zeltplatz ist heute an Idylle durch nichts mehr zu überbieten. Ich blicke auf einen Traumstrand, der sich im Abendlicht golden färbt. Nur noch ein Kitesurfer zieht da auf dem Wasser seine kunstvollen Bahnen. Er fasziniert mich. Erst als er an Land kommt, sehe ich, dass „er“ eine „sie“ ist. Es wird Zeit für meine getrockneten Bananen und für meine kleinen Pitabrote. Schnell wird mir kalt. Ich verkrieche mich mein Zelt und fühle mich geborgen. Dimitri hat schon Recht, wenn er sagt, Israel sei ein sicheres Land. Hier kann man im Freien schlafen. Sicherlich auch als Frau. Niemand würde dir hier etwas tun oder dich gar bestehlen. Israelis sehen in dir als erstes einen Menschen, den man fragt, ob er Hilfe braucht. Sich gegenseitig zu helfen, scheint eines der elementaren Werte zu sein, auf das ich hier täglich stoße. Dass ich heute einem „Arschloch“ begegnet bin, wie Dimitri es gesagt hat, sehe ich so gar nicht. Ich bin da heute eher einem begegnet, der gefangen ist in seiner Welt des Raffens und Nehmens, in einer Welt der Gier. Aber ihm selbst wird es nicht besser gehen, als es mir heute ergangen ist. So wie er mich heute behandelt hat, wird er selbst wohl von seinen Geschäftspartnern und seinen Banken behandelt. Er kennt es nicht anders. Und trotzdem ist er hier auf dieser Welt, um eine bestimmte Aufgabe zu erfüllen, um einen Sinn zu finden. Vielleicht muss er heute mehr leiden, als ich selbst. Vielleicht bin nicht ich das Opfer in Person. Womöglich ist er es selbst. Seine Verzweiflung, zu raffen, zu funktionieren, zu liefern. Vielleicht hat er in mir sein Spiegelbild gesehen. Eins, das ihm voraus ist. Ein spiegelverkehrtes Bild, das ihm zeigt: „Hey, hier draußen ist die Welt. Und hier draußen ist die Liebe!“ Ich habe kein gutes Gefühl, wenn ich meine Gedanken Revue passieren lasse. Ich kann mich nicht über ihn erheben, als etwas Besseres darstellen. Ganz im Gegenteil. Der „Chef“ war ein Spiegel für mich. Er hat mich in den hässlichen Teil meines Ichs blicken lassen. Mit Abstand, aber doch in aller Deutlichkeit. Dafür danke ich ihm. Nein, nicht Dimitri war in diesem Spiel der Gute. Und auch nicht ich. Vielleicht war er der Gute. Der, der mit seinen Gefühlen kämpft. Der, der spürt, dass Kälte ihn selbst zerfrisst. Und der, der spürt, dass er seinen Weg noch nicht gefunden hat. Eines Tages wird er selbst den Israel Trail beschreiten. Bis dahin wird er vielleicht noch viele Seelen abweisen. Doch eines Tages wird er sich selbst auf den Weg machen. Suchen, was all die anderen vor ihm schon gesucht haben: Sich selbst. Er wird erkennen, wie klein er wird. Wie dankbar er für ein Lächeln ist. Er wird lernen, wie zerbrechlich er ist, hinter seiner Gucci-Brille. Und er wird sehen, wie verdammt schwer es ist, andere um Brot und Wasser zu bitten. Um Hilfe zu bitten, für die es keinen Gegenwert im marktwirtschaftlichen Sinne gibt. Aber er wird auch zu den gleichen Schlüssen kommen wie ich. Dass man für die, die einem geholfen haben, beten kann. Und dass man, wenn man sich überwindet, auch damit beginnt, für die anderen zu beten. Für die, die einfach noch nicht über ihren Schatten springen konnten, aber es innerlich irgendwann möchten. Es war ja nicht einfach ein gleichgültiges Nein. Es war ein wutentbranntes, selbst-zerfressenes Nein. Ein Nein, das in ihm selbst viel mehr Schaden anrichtet, als in mir, der statt seinem Wasser nun einen Wodka bekam. Während ich einschlafen will, bin ich ihm – dem Chef – irgendwie verbunden. Ich möchte mich bei ihm bedanken. Ich bete für ihn. Und ich schicke ihm gute Wünsche für sich und seine Familie in das Universum. Der erste dieses Jahr Das ist dann eines der nächsten Kapitel... Israel-Trail Post H1 Headlines Von Isfiya nach Kerem Maharal Array ( [0] => Wenn Du als Israelblogger mit 13.000 Euro Gegensatndswert abgemahnt wirst... ) H2 Headlines zum Shvil Israel Beitrag Array ( [0] => Israel Trail: Ausrüstung auf wenige Dinge reduziert. ) Keywords zu diesem Israel-Trail-Beitrag:

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